Größte Nahrungsmittelkrise seit dem Zweiten Weltkrieg
21. Januar 2023Nahrungsmittel - wohin man auch sieht. Die weltweit größte Agrarmesse, die Grüne Woche in Berlin, ist ein Ort des Überflusses. Rund 1400 Aussteller aus 60 Ländern präsentieren ihre Produkte. Überall brutzelt und kocht jemand. Gerüche und Aromen wabern durch die Luft, tausende Menschen flanieren kauend durch die Hallen.
Doch die Grüne Woche ist auch das: In einem Konferenzgebäude auf dem Messegelände haben sich 2000 internationale Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik getroffen, unter ihnen 64 Agrarminister aus aller Welt. Auf Einladung des Bundeslandwirtschaftsministeriums berieten sie auf dem Global Forum for Food and Agriculture (GFFA) und bei einer Agrarministerkonferenz über das Gegenteil von dem, was in den Messehallen drumherum zu sehen ist: Über Hunger.
Zwei Milliarden Menschen können sich nicht gut ernähren
"Ernährungssysteme transformieren - Eine Antwort auf multiple Krisen" war das Thema. Zum Auftakt der Konferenz flimmerten apokalyptische Bilder über eine große Leinwand: Brennenden Wälder und überschwemmte Landschaften, verdorrte Maispflanzen und hungernde Menschen. Szenen aus der Corona-Pandemie wurden eingeblendet und aus dem Krieg in der Ukraine.
"Die Krisen verschärfen sich gegenseitig", konstatiert Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). Der Krieg beschleunigt die Abwärtsspirale, die sich in Folge der Klimakrise und des Artensterbens ohnehin schneller dreht. "Zwei Milliarden Menschen auf unserem Planeten haben keinen ausreichenden Zugang, keinen dauerhaft gesicherten Zugang zu Nahrung."
Bis 2030 sollte der Hunger besiegt sein
Die Zahl der akut hungernden Menschen hat sich in den vergangenen drei Jahren um 150 Millionen auf rund 823 Millionen erhöht. Die Hälfte davon lebt in Asien, in Afrika sind nach Angaben der Weltbank 282 Millionen Menschen unterernährt. Das Ziel der Vereinten Nationen, bis 2030 den Hunger in der Welt für die Mehrzahl zu beenden - nie schien es weiter entfernt. Bisherige Versuche, die globalen Ernährungssysteme krisenfester zu machen, sind weitestgehend gescheitert. Das ist die einhellige Meinung aller Experten.
Die Landwirtschaftskommissarin der Afrikanischen Union rechnet vor, dass aktuell 38 Länder auf ihrem Kontinent von Nahrungsmittelimporten abhängig sind. "Schon vor der COVID-19-Pandemie hatten wir Probleme mit Konflikten, mit Terrorismus, wir hatten den Klimawandel", sagt Josefa Sacko. "Und das behinderte wirklich jeden Fortschritt in Bezug auf die Ernährung unserer Bevölkerung. Aber dann kamen auch noch die Pandemie und der Ukraine-Russland-Konflikt."
Zerstörte Ernten in Malawi
"Zwei Zyklone mit Überschwemmungen vor allem im Süden des Landes haben uns 2022 stark getroffen", berichtete Samuel Dalitso Kawale, Minister für Landwirtschaft von Malawi. Es sei weniger geerntet und auch weniger produziert worden. Das südostafrikanische Land gehört ohnehin zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt und ist hochgradig von ausländischer Unterstützung abhängig.
"Unsere Böden sind schlecht", sagt Kawale, aber wegen der Klimaereignisse müsse sein Land in Zukunft auf weniger Flächen mehr produzieren. "Düngemittel sind gut und schön, aber wenn wir nicht auf die Böden achten, wird alles umsonst sein." Kawale will sich dafür einsetzen, die Böden mit organischen Substanzen klimaneutral aufzuarbeiten. Doch das kostet viel Zeit - die aber niemand mehr hat.
Weniger Land, mehr hungrige Menschen
Von Überschwemmungen, Dürre und zunehmenden Problemen mit Versalzung berichtet der Landwirtschaftsminister von Bangladesch, Abdur Razzaque. 60 Prozent der Böden seien nicht mehr fruchtbar, auch weil landwirtschaftliche Flächen zu intensiv bewirtschaftet worden seien. Dabei müsste die Lebensmittelproduktion verdoppelt werden, um die Menschen in Bangladesch auch künftig ernähren zu können. "Wir stehen vor großen Herausforderungen", resümiert Razzaque.
Der krisenhafte Zustand, in dem sich die Welt befindet, werde sich absehbar nicht ändern, sagt der US-Amerikaner Jason Clay vom World Wildlife Fund (WWF), der sich intensiv mit den Folgen der globalen Nahrungsmittelproduktion beschäftigt. Es werde im Gegenteil noch schlimmer: "Insbesondere, wenn wir uns die Vorhersage ansehen, dass zwischen einer und 1,5 Milliarden Menschen innerhalb der nächsten 25 Jahre wegen des Klimawandels zu Flüchtlingen werden. Was bedeutet das für die Landwirtschaft?"
Internationale Zusammenarbeit fehlt
Der Welt drohe die größte Nahrungsmittelkrise seit dem Zweiten Weltkrieg, warnt der deutsche Landwirtschaftsminister Özdemir. "Zur Wahrheit gehört: Bis 2030 sind es gerade mal noch acht Ernten. Wenn das Versprechen der UN, den Hunger zu besiegen, nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, dann muss sich die internationale Staatengemeinschaft auch dazu verpflichten, das Notwendige dafür zu tun."
Was fehlt, ist ein international abgestimmtes Konzept zur Zusammenarbeit. Das beklagte in Berlin auch der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri. Die größten Probleme seien die Schuldenkrise und der jahrzehntelange Stillstand im Welthandelssystem WTO. "Es ist frustrierend, dass eine kleine Anzahl mächtiger Länder die Fähigkeit zur internationalen Koordinierung und Zusammenarbeit blockiert."
Geld wird falsch ausgegeben
800 Milliarden US-Dollar geben Regierungen weltweit aus, um ihre Landwirtschaft zu unterstützen. Subventionen seien richtig und wichtig, sagt der Weltbank-Vizepräsident für Nachhaltige Entwicklung, Jürgen Vögele. Das Geld werde zu 80 Prozent aber falsch ausgegeben, beispielsweise für Düngemittel. "Die Subventionen werden nicht für den Kampf gegen den Klimawandel und dem Aufbau einer resilienten Landwirtschaft eingesetzt." So sieht es auch Landwirtschaftsminister Özdemir: "Das Know-how, beispielsweise für Pflanzenschutz, gehört nach Afrika. Es gehört nicht primär in die Konzernzentralen, die damit natürlich Geld verdienen wollen."
Die gegenwärtigen Agrar- und Ernährungssysteme tragen stark zu Klimawandel, Biodiversitätsverlust und zur Zerstörung von natürlichen Ressourcen wie Böden, Wäldern und Wasser bei. Im Abschlusskommuniqué der Berliner Agrarministerkonferenz heißt es nun: "Wir verpflichten uns, nachhaltige, inklusive, effiziente und widerstandsfähige Ernährungssysteme zu fördern." Wichtig sei , eine Vielfalt lokal und nachhaltig produzierter Lebensmittel zu erreichen.
Die Fehler der Industrienationen
In der Vergangenheit sei viel falsch gemacht worden, räumt Cem Özdemir ein. Beispielsweise durch den Export von landwirtschaftlichen Produkten nach Afrika. "Wir sind zu Recht stolz auf unsere leistungsfähige europäische Landwirtschaft. Aber zur Wirklichkeit gehört auch, dass wir dazu beigetragen haben, dass in Teilen Afrikas heimische Märkte etwa für Geflügel, etwa für Milch, keine Chance mehr haben, weil wirtschaftliche Perspektiven vernichtet wurden."
Ernährungssicherheit ernst zu meinen, das bedeute, einheimische Märkte in Afrika zu stärken und die Selbstversorgung zu unterstützen, so der Landwirtschaftsminister. "Vielleicht muss das Ziel künftig sein: Getreidesilos bauen, statt Getreidesäcke zu schicken." Bislang werden für die Ernährung in von Hunger bedrohten Ländern vor allem importierter Weizen, Reis, Mais oder Kartoffeln genutzt. Dabei wären traditionell genutzte Pflanzen, wie beispielsweise Maniok und lokale Gerste- und Hirse-Sorten viel besser geeignet. Sie könnten vor Ort angebaut werden, weil sie an die Temperaturen angepasst sind. "Es muss uns um Empowerment Afrikas gehen, um echte Lösungen", sagt Özdemir.
Es wird zu viel verloren und verschwendet
Die größten Produktivitätssteigerungen seien durch eine Verbesserung der Böden zu erreichen, sagt der US-Amerikaner Jason Clay. "Konzentrieren Sie sich nicht auf die besten Produzenten. Konzentrieren Sie sich auf die schlechtesten Produzenten. Helfen Sie ihnen, besser zu werden, das hat die größten Auswirkungen." Viel sei auch durch Reduzierung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung zu erreichen. Schätzungen zufolge liegt sie weltweit bei etwa 40 Prozent.
Deutschland und die Europäische Union müssten in Zukunft in Afrika präsenter sein, sagte Landwirtschaftsminister Özdemir nach der Agrarministerkonferenz in Berlin. "Wir dürfen das Feld nicht den autoritären Staaten überlassen, die dort aktiv sind und durch ihre Investitionen versuchen, neue Abhängigkeiten zu schaffen."
Abkommen mit der Afrikanischen Union
Özdemir unterzeichnete in Berlin ein agrarpolitisches Partnerschaftsabkommen mit der Afrikanischen Union, in dem Deutschland Hilfe für den nachhaltigen Umbau der Landwirtschaft und die Transformation der Ernährungssysteme anbietet. "Wir haben keine kolonialen Absichten, sondern wir wollen Partnerschaft auf Augenhöhe von Freunden zu Freunden", so Özdemir.
Ein Punkt, den Landwirtschaftskommissarin Josefa Sacko wichtig findet. Sie betonte in Berlin, dass ihr Kontinent viel zu bieten habe, auch wenn momentan rund 38 Länder auf Nahrungsmittelimporte angewiesen seien. "Wir könnten der Brotkorb der Afrikaner sein. Wir haben 60 Prozent unkultiviertes Ackerland, wir haben Wasser, wir haben Seen, wir haben Potenziale, und wir haben die jüngste Bevölkerung auf dem Kontinent." Es sei Zeit für die Afrikaner, "die Erzählung zu ändern".