Guinea-Bissau: Bettelverbot für Koranschüler
31. März 2023Seit Jahren machen Menschenrechtsorganisationen in Westafrika auf das Problem misshandelter und zum Betteln gezwungener Koranschüler aufmerksam. Lange konzentrierte sich das Phänomen der sogenannten "Talibé" auf den Senegal. "In letzter Zeit verwenden skrupellose Gauner das Geschäftsmodell der Koranschulen-Internate auch zunehmend in Nachbarstaaten wie meinem Heimatland Guinea-Bissau. Sie nutzen die traurige Tatsache aus, dass das staatliche Schulsystem hier praktisch zusammengebrochen ist", sagt Suleimane Embaló von der lokalen Kinderschutz-Vereinigung AGLUCOMI-TSH.
Vor allem armen Familien würde nahegelegt, ihre Kinder in Koranschulen anzumelden, so Embaló. Praktischer Nebeneffekt: Diese Familien hätten mit jedem Talibé ein Familienmitglied weniger, das sie verpflegen und unterbringen müssten. Doch nicht selten landeten diese Kinder als Bettler auf den Straßen. Dort müssen sie den ganzen Tag Geld erbetteln, sagt Embaló zur DW. Den Koran würden sie - wenn überhaupt - nur morgens und früh abends lernen.
Hunger und Erniedrigungen
Die Lebensbedingungen in den Schulen seien in den meisten Fällen unwürdig: Die kleinen Jungen erlebten Hunger, Krankheiten und Erniedrigungen. Wer nicht gefügig sei werde misshandelt. "Das alles ist schrecklich. Betteln ist ein Faktor der Armut und hat nichts mit Religion zu tun", so Suleimane Embaló.
Angesichts des öffentlichen Drucks versprach Präsident Umaro Sissoco Embaló, selbst Muslim, dem Phänomen mit der vollen Härte des Staates zu begegnen. "Schaffen Sie die Kinder in die Schule und hören Sie auf, sie zum Betteln zu schicken. Das ist kein Islam", sagte er an die Adresse der Schul-Betreiber. Und gab seinem Innenminister einen klaren Auftrag: "Sie haben eine Woche Zeit, bettelnde Talibés von der Straße zu holen. Wer auch immer sein Kind ab dem 27. März auf die Straße schickt, landet im Knast", drohte der Präsident.
Nach Angaben der guineischen Kinderschutz-Vereinigung gibt es in Bissau 22 "Daaras" genannte Koranschulen. Sie werden von 721 Kindern zwischen drei und 18 Jahren besucht. Mindestens 200 von ihnen betteln täglich auf der Straße. 15 Prozent von ihnen sollen Waisenkinder sein.
"Täter bleiben straffrei"
"Guinea-Bissau ist einer der Staaten, die internationale Konventionen zugunsten von Kindern unterzeichnet und ratifiziert hat, diese Bestimmungen werden jedoch nicht eingehalten. Täter bleiben normalerweise straffrei", sagt Kinderschützer Suleimane Embaló. Erst kürzlich sei ein Koranlehrer verhaftet, aber kurz danach ohne Prozess wieder aus dem Gefängnis entlassen worden.
"Am Ende des Tages bleibt es dabei: Der Talibé, der dem Koranlehrer nicht einen bestimmten Geldbetrag überreicht, wird körperlich und psychisch misshandelt."
Auch der Vorsitzende des Nationalen Kinderparlaments Guinea-Bissaus, Leoni Fernando Dias, fordert im DW-Gespräch harte Strafen für die Betreiber der Schulen. "Oft rechtfertigen sich die Koranlehrer damit, dass sie Kinder zum Betteln schicken, weil sie kein Geld für ihren Lebensunterhalt haben. In dem Fall sollten sie ihre Schulen schließen. Man kann keine Koranschule betreiben, wenn man nicht in der Lage ist, die Existenzgrundlage der Kinder sicherzustellen", argumentiert er.
Ursprung im Senegal
Das Problem der bettelnden Talibés ist in Guinea-Bissau seit Jahren ein Dauerthema. In der Vergangenheit berichteten Medien meist über Koranschüler, die illegal ins Nachbarland Senegal verschleppt wurden. In regelmäßigen Abständen kam es vor, dass Militärpatrouillen aus Guinea-Bissau Gruppen von Kindern ermittelten, die heimlich über die Grenze nach Senegal gebracht werden sollten. Über solche Fälle berichteten lokale und auch internationale Medien ausführlich.
"Es kursierten, zum Beispiel, auch Berichte über eine Daara in Touba, östlich von Dakar, wo neu eingetroffene Kinder, aus Guinea-Bissau, Mali, Mauretanien, Gambia und Mali, erst einmal angekettet worden sein sollen, bis sie hinreichend gebrochen und verängstigt waren", erinnert sich Kinderrechts-Aktivist Suleimane Embaló. Danach sollen senegalesische Koranlehrer sie zum Betteln gezwungen haben.
Ähnlich wie in Guinea-Bissau und anderen Ländern der Region gebe es im Senegal keine festen Vorschriften für die Eröffnung einer Daara. Jeder Mann kann sich als "Marabout", also als Koranlehrer, bezeichnen. Aus diesem Grund gebe es vielerorts Marabouts, die kein Interesse am Unterrichten von Kindern haben, sondern sie nur ausbeuten würden, sagt Embaló.
Der Alltag vieler Talibés ist von Vernachlässigung, Grausamkeiten und Gefahren geprägt. Täglich müssen sie auf der Straße betteln. Meistens wird den Kindern eine Summe vorgegeben, die sie abends ihrem Lehrer übergeben müssen. Wenn sie das nicht schaffen, werden sie streng bestraft.
Kinderrechtsorganisationen berichten, dass Kinder oft selbst ihr eigenes Essen erbetteln müssen, da sie keinerlei Verpflegung erhalten. Auch sonst sind ihre Lebensbedingungen unmenschlich. Die Talibés müssen auf dem Fußboden schlafen. Außerdem haben sie zumeist keinen Zugang zu fließendem Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen.
Zehntausende Talibés in der Sahelzone
Hilfsorganisationen vermuten, dass es allein in Senegals Hauptstadt Dakar mehr als 30.000 kleine Talibés gibt. Landesweit sollen es mehr als 80.000 sein, die Jüngsten sind gerade mal drei oder vier Jahre alt. Allerdings betteln nicht alle von ihnen. Daaras haben im Sahel eine lange Tradition und sind weit verbreitet. Auch wegen der wachsenden Armut in den Dörfern schicken viele Eltern überall im Sahelgebiet ihre Kinder lieber auf diese kostenlosen Internate als auf öffentliche, meist kostenpflichtige Schulen.
Seit 2005 gibt es im Senegal eigentlich ein Gesetz, dass Betteln unter Zwang verbietet. Wer Kinder dazu anstiftet, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. "Leider schert sich niemand um das Gesetz, niemand wacht darüber"´, klagt aber Kinderrechtsaktivist Suleimane Embaló.
In Guinea-Bissau hat Päsident Umaro Sissoco Embaló jetzt die Reißleine gezogen - mit ungewissem Ausgang. "Ob diese Maßnahme wirklich umgesetzt wird, oder ob es sich um ein Wahlkampfmanöver im Zuge der für Juni vorgesehenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen handelt, wird sich erweisen", sagt Aktivist Suleimane Embaló.