Freihandel gegen den Hunger?
18. November 2011Internationaler Handel hat der Weltwirtschaft ein gewaltiges Wachstum beschert. Seit 1990 hat sich der Wert aller weltweit erzeugten Güter und Dienstleistungen mehr als verdoppelt. Es liegt daher nahe zu fragen, ob die Liberalisierung des Handels auch zur Bekämpfung des Hungers taugt.
Einer der prominentesten Verfechter des Freihandels ist der aus Indien stammende Ökonom Jagdish Bhagwati. Er lehrt an der New Yorker Columbia Universität und hat internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen und die Welthandelsorganisation WTO beraten. Doch selbst Bhagwati warnt davor, im Abbau von Subventionen und Handelshemmnissen ein Allheilmittel zu sehen.
Freier Handel hilft nicht allen
"Es wird sie vielleicht überraschen, weil ich ein Verfechter des Freihandels bin", so Bhagwati im Gespräch mit DW-WORLD.DE. "Aber es ist grundsätzlich keine gute Idee zu behaupten, dass jede Liberalisierung immer allen hilft." Man müsse sich sehr genau anschauen, wer profitiert und wer verliert, so Bhagwati.
Die französische Nicht-Regierungsorganisation Momagri hat genau das versucht. Der Pariser Think Tank wurde von französischen Genossenschaften aus der Landwirtschaft gegründet, darunter der Saatguthersteller Limagrain und die Bank Crédit Agricole.
"Wir sind für den freien Handel", sagt Jacques Carles, Vizepräsident von Momagri gegenüber DW-WORLD.DE. "Doch der freie Handel braucht Regeln, sonst gilt nur das Gesetz des Dschungels." Hinzu kommen die Besonderheiten der Landwirtschaft. "Man kann die Produktion von Lebensmitteln nicht vergleichen mit der Herstellung von T-Shirts, Schuhen oder Autos", so Carles.
Unzuverlässige Modelle
Die Wirtschaftsmodelle, die etwa die Weltbank einsetzt, berücksichtigen nicht die Besonderheiten der Landwirtschaft, sagt Carles. Zum einen gebe es im Agrarbereich extreme Preisschwankungen. Zum anderen passe sich das Angebot an Lebensmitteln niemals vollständig an die Nachfrage an - schon allein, weil Wetter und Ernten nicht genau kalkulierbar sind.
Im Auftrag von Momagri haben Wissenschaftler unter Leitung des französischen Ökonomen Bertrand Munier ein wirtschaftliches Modell speziell für die Landwirtschaft entwickelt. Nachdem sie die Preisschwankungen von Lebensmitteln seit 2008 korrekt vorhergesagt hatten, untersuchten die Forscher, wie sich ein völliger Freihandel, also der Abbau aller Subventionen und Handelshemmnisse, auf die Einkommen der Erzeuger auswirken würde.
Wer profitiert, wer verliert?
"Die einzigen Länder, die von maximaler Liberalisierung profitieren würden, sind die Länder Lateinamerikas, vor allem Brasilien und Argentinien", so Jacques Carles. In diesen Staaten gibt es riesige Ländereien, die industriell bewirtschaftet werden.
Die meisten südamerikanischen Länder sind Mitglied der Cairns-Group, einer Interessenvertretung der großen Agrarexporteure. Es sei kein Wunder, dass sich diese Gruppe in den WTO-Verhandlungen für einen möglichst weitgehenden Abbau von Subventionen und Handelshemmnissen einsetze, sagt auch Jagdish Bhagwati von der Columbia Universität. "Schließlich würden sie als große Exporteure besonders davon profitieren."
In Europa und den USA würden die Einkommen der Bauern nach einer vollständigen Liberalisierung dagegen um 20 Prozent sinken, so die Kalkulation von Momagri. Besonders hart träfe es die Kleinbauern in Asien und Afrika. Für China und Indien sagen die Forscher Einbrüche von 30 bis 40 Prozent voraus. "In Afrika wären die Folgen des totalen Wettbewerbs dramatisch", sagt Jacques Carles. "Die Einnahmen der Bauern würden um 50 Prozent zurückgehen. Dabei sind die jetzt schon sehr arm."
Hungernde Bauern
Mehr als die Hälfte der weltweit Hungernden sind Kleinbauern in Afrika und Asien. Zu diesem Ergebnis kommt die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).
"Das ist total paradox. Diejenigen, die Lebensmittel anbauen, sind auch diejenigen, die unter Hunger leiden", sagt Marita Wiggerthale, Referentin für globale Handelsfragen und Welternährung bei der Nicht-Regierungsorganisation Oxfam. "Die Ernteerträge sind häufig so niedrig, dass es nicht reicht, sich und ihre Familien zu ernähren."
Die Gründe sind vielschichtig. Zu kleine Ackerflächen, kein Geld für Saatgut und Dünger, mangelnder Marktzugang. Die Bauern bräuchten zunächst Hilfe, sagt Marita Wiggerthale. Dazu gehören nicht nur Investitionen, um die Rahmenbedinungen zu verbessern.
"Ein gerechter Welthandel bedeutet auch, dass eine Regierung die Möglichkeit hat, bestimmte Produkte zu schützen", so Wiggerthale. Den Welthandel sieht sie dadurch nicht gefährdet. "Kleinbauern produzieren zu 90 Prozent für den einheimischen Markt, nur zehn Prozent geht in den Export."
Weltbank und IWF machen Druck
In den letzten Jahren haben viele Länder diesen Schutz jedoch mehr und mehr abgebaut, oft auf Druck von WTO und Weltbank. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) drängt bei Ländern, die sich von ihm Geld geliehen haben, auf den Abbau von Handelsschranken. Das belegt eine Studie im Auftrag der kirchennahen Schweizer Nicht-Regierungsorganisation Ecumenical Advocacy Alliance.
Die Forscher haben die Folgen der Liberalisierung für Reisbauern in Indonesien, Ghana und Honduras untersucht. Alle drei Länder haben ihre Märkte auf internationalen Druck liberalisiert – mit schwerwiegenden Folgen für die heimischen Reisbauern, so die Studie. Die Bauern waren der internationalen Konkurrenz schutzlos ausgeliefert, viele mussten die Landwirtschaft aufgeben, ohne eine andere Arbeit zu finden. "Durch die Handelsliberalisierung wurde das Recht der Kleinbauern auf Nahrung verletzt", schreiben die Autoren.
Hinter der Forderung weitreichender Handelsliberalisierung vermutet Jacques Carles von Momagri handfeste Interessen der Finanz- und Agrarwirtschaft. "In den letzten fünf bis zehn Jahren hat die Zahl der Investmentfonds zugenommen, die in den Ländern der Armen, vor allem in Afrika, große Mengen Land aufkaufen, und zwar Millionen Hektar. Ihr Ziel ist es, dort Lebensmittel für den Export zu produzieren", so Carles.
Ein Weltsicherheitsrat für Ernährung
Der Ökonom Jagdish Bhagwati ist dennoch überzeugt, dass ein freier Handel letztlich mehr Vorteile bringt als Nachteile. "Allerdings muss man die Verlierer der Liberalisierung entschädigen und ihnen helfen. Aber das macht niemand."
Jacques Carles dagegen hält die Frage der Ernährungssicherheit für so bedeutend, dass sie zur Chefsache gemacht werden sollte. "Wir brauchen einen Weltsicherheitsrat für Ernährung", so Carles, "nach dem Muster des Weltsicherheitsrats der Vereinten Nationen". Seine Aufgaben: Einen internationalen Dialog ermöglichen, Krisen vorhersehen und, falls nötig, eingreifen. Nicht mit Soldaten, sondern mit strategischen Nahrungsmittelreserven, um die Weltmarktpreise zu beeinflussen.
Ohne konkreten Einfluss bleibe es bei frommen Wünschen. "Regelmäßig wird auf irgendeinem Gipfel gesagt, man müsse den Ärmsten helfen", so Carles. "Und doch passiert nie etwas."
Autor: Andreas Becker
Redaktion: Matthias von Hein