Literatur-Nobelpreis in den falschen Händen
11. Oktober 2019Unsere Welt ist bisweilen schizophren. Was würde dieses Gefühl besser illustrieren als der Tag, an dem eine aus dem Balkan stammende und in Deutschland lebende Frau Nachrichten über den Terrorakt in Halle liest, und dann - inmitten all jener Vorahnungen, die sie als ein déjà vu erlebt - von der Entscheidung des Nobelkomitees erfährt?
Während Olga Tokarczuk in den deutschsprachigen Medien sofort für ihre kritische politische Haltung gegenüber dem polnischen Nationalismus gefeiert wird, heißt es bezogen auf Peter Handke, dass das Politische nicht zentral für die Vergabe des Literaturnobelpreises sei.
Der Literat hat seine politischen Ansichten zwar in seine Literatur einfließen lassen, und er wurde nie müde, für diejenigen, die vielleicht dachten, es handele sich nur um Literatur, seine Thesen auch in Interviews zu bekräftigen, doch die Kritiker müssen sich nun hüten, diese Vermengung zu kritisieren, anderenfalls haben sie das Wesen des Literarischen nicht begriffen. Sich auf den Anschlag in Halle beziehend toben die Medien: "Nie wieder! Wehret den Anfängen!"
Anfängen?
"Den Worten folgen Taten!"
Aber offenbar nicht allen Worten, wenigstens wenn es um Handke geht.
Gespaltene Reaktionen
Auf die Reaktionen aus Südosteuropa wartete man nicht lange: Während viele bosnischen Muslime die Toten von Srebrenica verunglimpft sehen, und etliche Kosovaren sich mit ihnen solidarisieren, teilen sich die Kroaten in jene, die "Handkes Werk ist groß, aber..." und jene, die "er ist ein Tschetnik" sagen.
Währenddessen fühlen sich zahlreiche Serben endlich von der Welt verstanden, aber auch unter ihnen gab es heftige Diskussionen. Der Autor Dejan Tiago Stanković schreibt: "Lieber Handke, wir werden dir zwar verzeihen, dass Milošević, der unzählige Menschen in den Tod trieb, dich für dumm verkauft hat, aber bitte lass dich nicht noch einmal zum Narren halten (...)".
Grenzüberschreitungen als Konzept
Handkes Aussagen spielen häufig mit politisch unkorrekten Grenzüberschreitungen, die stark polarisieren. Über MeToo sagte Peter Handke in einem Interview: "Ich kann es nicht mehr hören. Die Frauen, die da die Männer anflammen, und dann beschweren sie sich." Anflammen? Ungeachtet dessen, was er sagt, sagt er es besonders schön, so seine Bewunderer.
In der ostbosnischer Stadt Višegrad, wo serbische Freischärler eine der ersten ethnischen Säuberungen" an den muslimische Bosniaken verübten, fragte sich Handke: "Wie konnte solch freihändiger Terror sich austoben gegenüber einer mehrheitlich muslimischen, für den Krieg längst schon gut gerüsteten, überdies noch die Obrigkeit stellenden Bevölkerung?" Damit stellte er einen Bericht aus der New York Times in Frage, nach dem die serbischen Milizen in Višegrad Terror ausgeübt hatten. Die Kritik des westlichen Journalismus und der westlichen Demokratien ist für ihn wichtiger als Fakten.
Damit profilierte sich Peter Handke als einer der ersten, der über die „Lügen der Presse" schrieb und damit auch dem Begriff "Lügenpresse" den Weg bahnte - ungeachtet der Tatsache, dass auch verschiedene Expertisen die Berichte der Journalisten bestätigten, und dass 57 Journalisten in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien ihr Leben verloren. Die Tatsachen seien eben nicht entscheidend für den Balkan, so sagte er einmal in einem Interview, dem Balkan könne man sich "nur durch Fiktion" nähern. Was er dann auch ausgiebig tat.
Als Reich-Ranicki „jedes Rassenmerkmal verlor"
Einer seiner größten Widersacher war Marcel Reich-Ranicki, der früh verstand, dass die Bewunderer von Handke "eine Art Gemeinde der Gläubigen" darstellen. Im Jahr 1980 machte Handke ihn in einem Buch zum hassenden, Haufen machenden Hund: "…wie er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war". Später sagte er: "Das wurde mir übel genommen als Antisemitismus, aber da konnte ich auch nur staunen drüber."
Handkes ehemalige Lebensgefährtin Marie Colbin berichtete, er habe sie geschlagen: "Ich höre noch meinen Kopf auf den Steinboden knallen. Ich spüre noch den Bergschuh im Unterleib und auch die Faust im Gesicht", schrieb sie in einem offenen Brief an ihn, in dem sie ihm vorwarf, seine Solidarität mit Serbien sei eigentlich aus seiner Selbstverliebtheit entstanden, der Krieg nutze ihm nun, um sein Ego zu erhöhen.
Fakten? Nicht so wichtig!
Dabei spielte Handke gerne einen Balkan-Experten, der sich allerdings als ein an Fakten nicht interessierter Dichter rechtfertigen kann. Er nahm den Spruch "Serben alle und überall" ernst und nannte die Kroaten "die katholischen Ustascha-Serben"; er fragte sich, ob "die serbokroatisch sprechenden, serbisch-stämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten". Und das in einem Text, in dem er an den Berichten über Srebrenica zweifelte: "Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung (...) wieder nichts als der nackte, geile, marktbestimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf?"
Hier und da bezeichnet er jemanden als Faschisten (gerne "die Kroaten"), womit seine naturverbundene, vom Westen angeekelte Attitude eine starke Gerechtigkeitspose bekommt: "Gerechtigkeit für Serbien!" schreibt er. In Rambouillet, wo 1999 die Friedensverhandlungen zwischen der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien und der politischen Führung der Kosovo-Albaner stattfanden, sagte er: "Bei den Juden, da gibt es Kategorien, man kann darüber sprechen. Aber bei den Serben - das ist eine Tragödie ohne Grund."
Das Reden von kollektiven Subjekten
Und ausgerechnet dieser, ob seiner sprachlichen Virtuosität Gefeierte, sagte in einem Interview: "Die scheußlichsten Wörter der Bundesrepublik kommen von Journalisten". Seine Art, über "die Serben", "die Deutschen" oder "die Juden" als kollektive Subjekte zu sprechen, hat der bosnische Autor Dževad Karahasan einer treffenden Kritik unterzogen. Ihm stände der Nobelpreis für Literatur viel eher zu als Peter Handke, genauso wie einem anderen Opponenten Handkes, dem serbischen Autor Bora Ćosić. Aber das Nobelpreis-Komitee nimmt die Menschen aus dem Balkan genauso wenig ernst wie der jüngste Preisträger.
Alida Bremer ist eine Schriftstellerin und Publizistin aus Kroatien. Seit 1986 lebt sie in Deutschland. Ihre Essays, Kolumnen, Erzählungen und Gedichte wurden in Zeitungen, Zeitschriften und Internetportalen veröffentlicht und in verschiedene Sprachen übersetzt.