Harper Lees Held wird zum Rassisten
14. Juli 2015"To Kill a Mockingbird", auf Deutsch "Wer die Nachtigall stört", ist seit langem das Standardwerk, wenn es um den US-amerikanischen Kampf um Bürgerrechte und die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß geht. Millionen von Schulkindern auf der ganzen Welt haben Harper Lees Roman von 1960 gelesen. Das Buch, das 1962 auch verfilmt wurde, erzählt von den Spannungen zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung im rassengetrennten Süden der USA der 1930er Jahre. Die sechsjährige Protagonistin Scout erzählt, wie ihr Vater Atticus als Anwalt für die Gleichberechtigung eines Schwarzes und damit gegen die Rassentrennung kämpft.
Nun erscheint Lees neues Buch "Go Set a Watchman" (dt. Übersetzung: "Gehe hin, stelle einen Wächter", erscheint am 17. Juli). Das Besondere daran: Es ist das abgelehnte Original-Manuskript, aus dem Lee auf Wunsch ihres Verlags "To Kill a Mockingbird" machte. Im "neuen" Roman trifft der Leser wieder auf die gleichen Charaktere in der gleichen Stadt Maycomb, Alabama. Der einzige Unterschied: Die Geschichte spielt jetzt in den 1950er Jahren, also 20 Jahre nach den Ereignissen in "To Kill a Mocking Bird".
Atticus Finch: vom Vorkämpfer zum Rassisten
Auch in dieser Zeit prägen Unruhen und Rassismus das Leben in den Südstaaten: 1954 verbietet der Supreme Court die Rassentrennung an amerikanischen Schulen. Doch Teile der weißen Bevölkerung im Süden widersetzen sich. 1957 mobilisiert der Gouverneur von Arkansas sogar die Nationalgarde, um in Little Rock eine High School zu verhindern, an der Schwarze und Weiße gemeinsam lernen sollen. Nur das harte Durchgreifen von Präsident Dwight D. Eisenhower kann die Lage wieder beruhigen.
In "Gehe hin, stelle einen Wächter" wehrt sich der mittlerweile 72-jährige Atticus Finch nun gegen die Aufhebung der Rassentrennung und nimmt an Treffen des Ku-Klux-Klans teil. "Willst du die Neger massenhaft in unseren Schulen, Kirchen und Theatern?", fragt Atticus seine inzwischen 26-jährige Tochter Scout, die ihn gerade aus New York besucht. Sie ist schockiert vom Rassismus ihres Vaters.
Scouts Verehrer aus Teenagerzeiten, Harry Clinton - der eine Narbe vom rechten Auge bis zur Oberlippe hat, die er sich als Soldat im Zweiten Weltkrieg bei einer Kneipenschlägerei in Berlin zuzog - arbeitet bei ihrem Vater und ist sein Ziehsohn geworden. Auch er schert sich wenig um die Rechte der Afroamerikaner.
Beschädigung des Originals?
Als Im Laufe der vergangenen Wochen immer mehr Details aus dem Buch bekannt werden, reagieren Viele geschockt. Sam Sacks vom "Wall Street Journal" bezeichnet Lees Roman ein "erschütterndes Buch" und ein "alarmierendes Gegenstück zum Idealismus aus 'To Kill a Mockingbird.'" In "Go Set a Watchman" werde ein Ideal zerstört.
Diese Desillusion hat mit der Hauptfigur von "To Kill a Mockingbird" zu tun. Atticus Finch symbolisiert einen Held der amerikanischen Literatur und wurde als weißer Bürgerrechtler gefeiert, der für Gleichberechtigung steht. Seine Figur wird vielfach in den US-Medien zitiert, als der junge Michael Brown 2014 von einem Polizisten in Ferguson erschossen wird. Bekommt die Moral von "To Kill a Mocking Bird" nun etwa einen Kratzer?
Sollte das neue Werk überhaupt veröffentlicht werden?
Eigentlich wollte Harper Lee kein weiteres Buch veröffentlichen, da das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete "To Kill a Mocking Bird" so schwer zu übertreffen sei. So ist sie womöglich auch nicht allzu überrascht von der Kritik der Fans an ihrem neuen Werk. Nach ihrem Erfolg in den 1960er Jahren hatte sich die Schriftstellerin zurückgezogen: Sie habe bereits alles gesagt, was zu sagen sei.
Mick Brown von der britischen Tageszeitung "The Telegraph" befand, dass es vielleicht besser für Lees Image und die vielen Fans des "Mockingbird"-Klassikers gewesen wäre, das Manuskript nicht zu veröffentlichen.
Komplexe Charaktere
"Gehe hin, stelle einen Wächter" ist in der dritten Person erzählt, nicht aus der Perspektive von Scout Finch, wie noch in "To Kill a Mockingbird." Nichtsdestotrotz findet sich auch hier wieder Lees viel gepriesenes Auge fürs Detail. Das Buch bietet eine Fülle von Beobachtungen zum Kleinstadtleben in Alabama. Einige Kritiker loben auch die in ihren Augen größere Komplexität der Charaktere.
Vielleicht wirft sogar dieser Roman - und nicht sein berühmter Vorgänger - ein zeitgemäßeres Licht auf die Spannungen zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung in den USA. Atticus Finch ist nicht mehr länger der Vorkämpfer für mehr Gleichheit sondern glaubt fest an die Überlegenheit der Weißen. Damit steht er für einen Rassismus der Südstaaten, der weiter unter der Oberfläche brodelt und zuletzt hervorbrach, als im Juni ein junger weißer Rassist neun Schwarze in einer Kirche in Charleston, South Carolina, kaltblütig erschoss. Möglicherweise hat dieser Roman, der so lange nach "To Kill a Mockingbird" erscheint, mehr zur aktuellen Diskussion in den USA beizutragen, als es vielen lieb ist.