Maas: Westbalkan ist integraler Teil Europas
13. November 2019Deutsche Welle: Die Ablehnung der versprochenen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien ist ein herber Rückschlag für die Integration des Westbalkan in EU-Europa - auch, und besonders für Deutschland, das sich intensiv für ein "Go" für die beiden Länder eingesetzt hat. Jetzt reisen Sie nach Skopje, Deutschlands Solidarität mit der Region zu versichern. Was haben Sie konkret anzubieten?
Heiko Maas: Für Deutschland ist klar: Die Westbalkan-Staaten sind integraler Teil Europas. Ihre Zukunft sollte in der Europäischen Union liegen. Eine überwältigende Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat sich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien ausgesprochen, weil das auch in unserem eigenen strategischen Interesse ist. Allerdings benötigen wir Einstimmigkeit in der EU. Daran arbeiten wir. Deutschland setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass wir in der EU zu einer gemeinsamen Position kommen und somit Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien bald beginnen können. Das will ich in Skopje noch einmal deutlich machen.
Frankreich - Präsident Macron - und die anderen Erweiterungsgegner umzustimmen, scheint derzeit nicht in Sicht. Was ist Ihre Strategie für den Westbalkan, wenn die EU die Erweiterung weiterhin blockiert?
Die Stärke der Europäischen Union liegt gerade darin, dass es uns auch bei schwierigen Themen gelingt, am Ende eine Lösung zu finden. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies auch hier gelingt. Präsident Macron hat erläutert, dass er neben weiteren Reformen in Albanien und Nordmazedonien auch eine Reform des Erweiterungsverfahrens für notwendig hält. Wir werden in den nächsten Wochen intensive Gespräche dazu in der EU führen.
Was zugleich aber zählt: Albanien und Nordmazedonien müssen den begonnenen Reformprozess unbeirrt fortsetzen und dabei weitere Fortschritte erzielen. Es gilt gerade jetzt, die wenigen noch verbleibenden Skeptiker durch Erfolge zu überzeugen. Deutschland wird sich weiterhin sehr engagieren, um die Länder des Westlichen Balkan auf ihrem Weg in die EU zu unterstützen.
Was erwarten Sie von Nordmazedonien und Albanien in dieser schwierigen Situation? Denn am Ende gab es aufgrund von Bedenken bezüglich des Reformprozesses in beiden Ländern auch kein "Ja" von Frankreich.
Nordmazedonien und Albanien - wie auch die übrigen Länder der Region - möchte ich noch aus einem weiteren Grund ermutigen, konsequent am Reformkurs festzuhalten: Die Reformen dienen nicht nur der EU-Annäherung, sie sind für sich richtig, weil sie im Interesse der Menschen sind. Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, ein entschiedenes Vorgehen gegen Korruption und organisierte Kriminalität - das sind Kernaufgaben jeder Regierung, der die Zukunft ihres Landes am Herzen liegt. Auch die Opposition trägt Verantwortung: Der politische Wettbewerb und konkurrierende Ideen, wie sie in Demokratien üblich und notwendig sind, dürfen ein Land nicht in seiner Entwicklung lähmen.
Der Premier Nordmazedoniens, Zoran Zaev hatte sein politisches Schicksal an die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geknüpft. Nun steht das Land vor vorgezogenen Parlamentswahlen. Die größte Oppositionspartei VMRO-DPMNE, die das Prespa-Abkommen offen ablehnt, steht in den Prognosen nicht schlecht da. Es heißt, sie würde versuchen, das Abkommen zu annullieren, wenn sie wieder an die Macht kommt. Was tun Sie, um das zu verhindern?
Das Prespa-Abkommen wird zu Recht als historisch bezeichnet. Nordmazedonien und Griechenland haben einen fast drei Jahrzehnte dauernden Disput beigelegt. Das Abkommen hat die Tür für die euro-atlantische Annäherung Nordmazedoniens geöffnet. Damit sind beide Länder Vorbild für die Region und darüber hinaus. Sie haben gezeigt, dass auch schier unüberwindbar geglaubte Konflikte mit Führungsstärke, Mut und Weitsicht gelöst werden können und schwierige Kompromisse möglich sind. Bald werden wir Nordmazedonien als 30. Mitglied in der NATO willkommen heißen. Auch ein Hindernis auf dem Weg in Richtung EU ist beiseite geräumt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendjemand all das zunichte machen möchte, dadurch würde Nordmazedonien international in eine Sackgasse manövriert.
So eindeutig die deutsche Zufriedenheit mit dem Reformprozess in Skopje auch war, so schwierig war es, einen Konsens bezüglich der Situation in Albanien zu erringen. Das Land befindet sich seit einem Jahr in einer tiefen innenpolitischen Krise, deren Lösung noch nicht in Sicht ist: Die Opposition boykottiert das Parlament und fordert Neuwahlen. Die Reformierung des Wahlgesetzes ist eine der Anforderungen, die Deutschland an Albanien gestellt hat für die EU-Beitrittsperspektive. Doch es bewegt sich nichts. Muss man die positive Entscheidung bezüglich Albaniens nicht revidieren?
Unsere Entscheidung, auch für Beitrittsverhandlungen mit Albanien einzutreten, war richtig. Sie wurden auch von der EU-Kommission so empfohlen. Die Erwartungen zu noch zu leistenden Reformschritten wurden ebenso klar formuliert.
Die Justizreform, mit der Albanien in der Region beispielhaft vorangegangen ist, ist auf gutem Weg. Wichtig ist es hier, dass jetzt alle dazu beitragen, dass das Verfassungsgericht nun zügig seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Auch die Wahlrechtsreform wird unter Beteiligung aller politischen Kräfte und der Zivilgesellschaft diskutiert. Wir sind zuversichtlich, dass Reformen, die die Empfehlungen von OSZE/ODIHR aufgreifen, zügig vereinbart werden können. Das Parlament ist der Ort für politische Auseinandersetzungen. Jetzt braucht es konstruktive Vorschläge und ernsthafte Zusammenarbeit im Interesse Albaniens und seiner Bürger.
Sollte man Albanien und Nordmazedonien lieber getrennt behandeln?
Im Beitrittsprozess selbst wird jedes Land nach seinen eigenen Leistungen beurteilt. Bereits 2018 hatte die Europäische Kommission festgestellt, dass sowohl Albanien als auch Nordmazedonien angesichts der erfolgten Reformfortschritte die Bedingungen für Beitrittsverhandlungen erfüllt haben. Also gab sie die Empfehlung ab, die Beitrittsverhandlungen mit beiden Ländern zu beginnen. Im Mai 2019 hat die Kommission ihre Einschätzung und Empfehlung erneuert. Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission und hat sich im Rat für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit beiden Ländern eingesetzt. Dies ist nach wie vor unsere Haltung.
Nach dem letzten EU-Gipfel sprechen viele davon, dass die EU ihr Versprechen nicht gehalten hat und die EU-Erweiterung sowieso nicht gewollt ist. Neue Konzepte für die Region stehen im Raum: ein Mini-Schengen, das norwegische Modell. Wie bewerten Sie diese Alternativen zur EU-Integration?
Wir sehen keine Alternative zum EU-Beitrittsprozess, wenn wir Anreize für ernsthafte und nachhaltige Reformen - vor allem im Rechtsstaatsbereich - erhalten wollen. Die Frage, ob der bestehende Prozess verbessert werden kann, ist aus meiner Sicht eine andere.
Die Verbesserung der regionalen Kooperation ergänzt den EU-Annäherungsprozess. Die Stärkung von gutnachbarschaftlichen Beziehungen und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kommt jedem der sechs Westbalkanstaaten zugute. Sie macht den Westlichen Balkan insgesamt attraktiver. Mit dem Berlin-Prozess unterstützen wir seit Jahren diese Bestrebungen und haben auch schon viel erreicht, zum Beispiel die Gründung des Regionalen Jugendwerks (RYCO) und - ganz praktisch - die Senkung der Roaming-Gebühren.
Während die EU zerstritten und gelähmt ist in Bezug auf den Westbalkan, und somit an Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verliert, werden die USA wieder sehr aktiv. Die Idee des Gebietsaustauschs zwischen Serbien und Kosovo ist wieder auf dem Tisch. Was setzen Sie, was setzen Deutschland und Europa dem entgegen - und wie bewerten Sie das russische Engagement in der Region?
Die Europäische Union steht für eine Perspektive auf ein Leben in Freiheit, Sicherheit und relativem Wohlstand. Ein vergleichbares Modell hat sonst niemand zu bieten. Daneben ist und bleibt die EU in der Region mit ihren Milliardenhilfen und einer Vielzahl von Beratungsinstrumenten mit Abstand der wichtigste Geber. Allein Deutschland engagiert sich zusätzlich noch bilateral jährlich mit dreistelligen Millionenbeträgen.
Was die Idee eines Gebietsaustauschs oder von Grenzveränderungen zwischen Kosovo und Serbien anbelangt, so glauben wir nicht, dass dies zur Stabilität in der Region beiträgt. Wofür wir uns einsetzen, ist der baldige Neustart des von der EU vermittelten Dialogs mit dem Ziel eines umfassenden Abkommens, das beiden Ländern die EU-Annäherung ermöglicht. Wir wünschen uns eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland, auch wenn wir Meinungsverschiedenheiten haben. Wir verstehen auch, dass es wichtig ist, gute Beziehungen zu unterhalten und eng gewachsene kulturelle Verbindungen zu pflegen. Das steht nicht im Widerspruch zur Mitgliedschaft in der EU.
Heiko Maas ist seit März 2018 Bundesaußenminister. Von Dezember 2013 bis März 2018 war er Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz.
Das Interview führte Adelheid Feilcke.