Bachmann-Preis für Helga Schubert
21. Juni 2020Am Ende war es keine große Überraschung: Der Bachmann-Preis 2020 ging an Helga Schubert. Die 80-jährige Schriftstellerin, die die zweite Etappe der "44. Tage der deutschsprachigen Literatur" eröffnet hatte, zählte seit ihrer Lesung zu den Favoritinnen. In ihrem "klugen und souveränen" Text "Vom Aufstehen", der ein zwiespältiges Mutter-Tochter-Verhältnis behandelt, "erzählt sie davon, wie man Frieden machen kann", würdigte Insa Wilke die einstige Ost-Berlinerin in ihrer Laudatio. "Helga Schubert hat Lebensgeschichte in Literatur verwandelt. Sie zeigt eine Möglichkeit, sich in der unendlich eisigen Welt, die sie erfahren hat, zu vertrauen."
Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreisen, und er hat seine ganz eigenen Gesetze. Sieben Jurorinnen und Juroren dürfen jeweils zwei Kandidaten vorschlagen, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen ihre halbstündigen Texte vortragen - die dann anschließend von der Jury zerlegt werden. Diskutiert wird vor Publikum, während eine deutsch-österreichisch-schweizerische Öffentlichkeit Lesung und Auseinandersetzung live im TV-Kultursender 3sat verfolgen kann, 16 Stunden lang insgesamt. Der Autor oder die Autorin darf zuhören und ist zum Schweigen verdammt. Zurück bleiben entweder Trümmer der literarischen Vernichtung oder Bausteine für eine vielversprechende schriftstellerische Karriere.
Zum Glück für Schubert ein virtueller Wettbewerb
In diesem Jahr und im Falle Helga Schuberts war von vornherein alles anders. In Zeiten von Covid-19 hatte sich der Österreichische Rundfunk (ORF) zu einer Zwitterform der Veranstaltung durchgerungen: Die Lesungen wurden wie die von den Autorinnen und Autoren selbst in Szene gesetzten Porträts vor dem Wettbewerb aufgezeichnet und erst zum Zeitpunkt der Lesung veröffentlicht. Die Juroren wurden an ihren jeweiligen Orten gefilmt und diskutierten live. Helga Schubert hatte sich für ihr Porträt und die Lesung einen Platz ausgesucht, der ihr selbst und ihrem Text einen freundlichen, sonnendurchfluteten Rahmen gab: Sie las, begleitet von Vogelgezwitscher, in ihrem Obstgarten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, nicht weit entfernt von der Weltkulturerbestadt Wismar.
Schubert hat längst eine beachtenswerte schriftstellerische Karriere hinter sich - und eine als klinische Psychologin. Als sie 1980 schon einmal zum Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt eingeladen war, durfte die damals 40-Jährige nicht aus der DDR ausreisen. Später saß sie selbst ein paar Jahre lang in der Jury. Inzwischen hat sie sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebt seit 2008 mit ihrem Mann im Dorf Neu-Melten. Für sie sei es ein Glücksfall gewesen, dass der Wettbewerb in diesem Jahr ins Digitale verlegt worden sei, sagte sie nach der Bekanntgabe. So hätte sie nicht nach Klagenfurt fahren müssen, sondern konnte weiter zuhause ihren Mann pflegen.
Autofiktion - ist das noch Literatur?
Etwas, was auch in Schuberts Text vorkommt. Die Diskussion über ihren Beitrag war in einen Streit darüber ausgeartet, ob ein autobiografischer Text überhaupt Literatur sein könne, selbst wenn er einen berühre. Autofiktion? Was sei das eigentlich? Wie zur Antwort zitierte Helga Schubert in ihrer eigenen Dankesrede die Rede, die Ingeborg Bachmann anlässlich ihrer Auszeichnung für "Der gute Gott von Manhattan" gehalten hatte: "Der Schriftsteller ist mit seinem ganzen Leben auf ein Du gerichtet."
Der ORF und die Stadt Klagenfurt, die den mit 25.000 Euro dotierten Preis stiftet, werden Bilanz ziehen, wie sich der diesjährige Wettbewerb in seiner virtuellen Fassung bewährt hat. Technisch hat alles hervorragend funktioniert; der hohe Aufwand, sieben Juroren, 14 Autorinnen und Autoren und den Moderator über drei Tage hinweg in Bild und Ton miteinander zu vernetzen, hat sich gelohnt. Gelohnt auch wegen der großen Resonanz in den sozialen Medien.
Die große Jury-Show
Inhaltlich hat die neue Form vor allem die Jury in Szene gesetzt. So viel Streit war selten, vor allem der Neu-Juror Philipp Tingler gab das Enfant terrible und lenkte mit seiner Lust an der Selbstdarstellung immer wieder von den Texten ab. Gestritten wurde mehr um die Kriterien der Bewertung als um die eigentlichen Texte, manchmal auch persönlich.
Den Vorwurf des Grazer Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger, "Ich finde, Herr Tingler, Sie haben einen sehr engen Blick", konterkarierte dieser mit: "Es fängt immer so ein Riesengeklingel an, wenn ich etwas sage." In anderen Jahren boten Autoren die Show, diesmal die Jury. Was fehlte, war der dämpfende Resonanzboden des Publikums.
Fünf weitere Preise
Beim ersten digitalen Wettbewerb ging es nicht nur um den Bachmann-Preis. Insgesamt wurden fünf Preise vergeben. Den mit 12.500 Euro dotierten Deutschlandfunkpreis erhielt Lisa Krusche, die mit ihrem Text "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" in eine dystopische Welt und die Tiefen eines Computerspiels führte.
Der von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft gestiftete KELAG-Preis über 10.000 Euro ging an Egon Christian Leitner. Er hatte den sozialkritischen Text "Immer im Krieg" vorgelesen, in dem er in Form von einzelnen Geschichten über Menschenschicksale im Sozialstaat berichtet. Laura Freudenthaler hatte mit ihrem Text "Der heißeste Sommer" lange zu den Favoritinnen gehört. Sie errang den 3sat-Preis.
Den von der BKS Bank gestifteten Publikumspreis in Höhe von 7.500 Euro gewann Lydia Haider, die auf Einladung von Nora Gomringer den Text "Der große Gruß" gelesen und durch ihren provokanten Stil einen besonders heftigen Streit zwischen den Juroren provoziert hatte. Zu ihrem Preis gehört auch ein Stadtschreiberstipendium. Die unkonventionelle Autorin und Sängerin wird im nächsten Jahr für sechs Monate das Stadtschreiber-Atelier in Klagenfurt beziehen. Das Netz freut sich:
Bei Helga Schubert haben sich schon eine Agentur und ein Verlag gemeldet. Ihren autobiografischen Roman, von dem schon hunderte Manuskriptseiten existieren, wie sie erzählte, dürfte man in naher Zukunft im Buchhandel finden.