Der Frankreich-Versteher
17. Juni 2017"Ist Helmut Kohl frankophil?" Als der CDU-Politiker Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 den Sozialdemokraten Helmut Schmidt als Bundeskanzler ablöste, fragte nicht nur die französische Tageszeitung "Le Monde" bang, was nun aus den deutsch-französischen Beziehungen werden solle. Der Konservative Kohl war zu diesem Zeitpunkt für die Franzosen ein unbeschriebenes Blatt. Lediglich seine Herkunft aus der an Frankreich grenzenden Pfalz wusste der Redakteur positiv zu erwähnen. Politisch verortete er den neuen Regierungschef als Atlantiker, der vor allem an guten Beziehungen zu den USA und zur Nato interessiert sei. Dass ausgerechnet dieser Kanzler einmal als Freund der Franzosen in die Geschichte eingehen würde, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen.
Gleichwohl machte Helmut Kohl schon unmittelbar nach seiner Wahl deutlich, wie sehr ihm an einem guten Verhältnis zum Nachbarn gelegen war. Seine erste Auslandsreise führte den Kanzler in die französische Hauptstadt. Ein durchaus heikler Trip, residierte dort mit François Mitterrand doch ein Sozialist im Elysée-Palast, dessen marktwirtschaftsfeindliches Programm wenig mit den Überzeugungen des CDU-Politikers zu tun hatte. Eine entscheidende Rolle in den Beziehungen beider Politiker sollten diese parteipolitischen Differenzen allerdings nie bekommen. Was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass sich beide Politiker in wichtigeren Punkten von Beginn an einig waren – vor allem in der Notwendigkeit einer tiefer gehenden europäischen Integration.
Symbol der deutsch-französischen Versöhnung
Einen ersten Vorgeschmack auf das später so enge Bündnis der beiden auch äußerlich so ungleichen Partner lieferte der Sozialist nur wenige Wochen nach Kohls Regierungsantritt im Deutschen Bundestag. In einer Rede vor den deutschen Abgeordneten warb Mitterrand für die maßgeblich von Kohl geforderte Stationierung der Pershing-II-Raketen in Deutschland - und lieferte dem Kanzler damit Munition für den gerade begonnenen Wahlkampf gegen die SPD.
Wie eng die Beziehungen zwischen beiden Politiker schon in den ersten Jahren von Kohls Kanzlerschaft waren, sollte sich im September 1984 an einem besonders symbolischen Ort zeigen. Zum Gedenken an die Toten beider Weltkriege war Kohl nach Verdun gereist, wo sein Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und Mitterrand als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg verwundet worden war. Während beide Staatsmänner im Regen stumm vor den endlosen Gräberreihen standen, streckte Mitterrand seine Hand in Richtung des deutschen Kanzlers, der diese spontan ergriff.
Motor der europäischen Einigung
Das Bild der sich schweigend an den Händen haltenden Staatsmänner ging als große Versöhnungsgeste in die deutsch-französische Geschichte ein - und ist bis heute im kollektiven Gedächtnis der Franzosen verankert. In seinen Memoiren schrieb Kohl später über diesen Augenblick: "Meine Gefühle lassen sich nur schwer beschreiben. Noch nie verspürte ich eine solche Nähe zu unseren französischen Nachbarn. Die spontane Geste des französischen Präsidenten hatte mich überwältigt."
Auf dem einstigen Schlachtfeld von Verdun haben Kohl und Mitterrand nach Meinung der Historiker endgültig zueinander gefunden. In den Folgejahren sorgte das Duo mit gleich mehreren Initiativen für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration. Auch die deutsch-französischen Beziehungen erreichten eine neue Stufe. Im Jahr 1987 einigen sich beide Politiker auf die Gründung einer deutsch-französischen Brigade. Aufgestellt wurde dieser erste binationale Militärverband mit heute rund 6000 Soldaten wenige Wochen vor dem Mauerfall. Für ihre mutigen Schritte wurden beide Staatsmänner 1988 gemeinsam mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet.
Klare Führungsrolle Frankreichs akzeptiert
Es ist dieses Jahr 1989, das auch einen Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen markiert. Auf den Fall der Mauer am 9. November 1989 reagierte Mitterrand zögerlich und abwartend. Obwohl ihm seine Berater empfohlen hatten, nach Berlin zu reisen, hielt sich der Staatspräsident vom Schauplatz der Weltgeschichte fern. Als sich der Sozialist im Dezember 1989 sogar nach Ost-Berlin aufmachte, drängte sich der Eindruck auf, Frankreich wolle die deutsche Einheit blockieren. Die neue Führung der DDR, so äußerte sich Mitterrand in Ost-Berlin, könne "auf die Solidarität Frankreichs für die Deutsche Demokratische Republik zählen". Am Ende waren es Kohls Bekenntnis zur polnischen Westgrenze und seine Zustimmung zur europäischen Währungsunion, die Mitterrand die zögerliche Haltung zur Wiedervereinigung aufgeben ließ.
Dass Kohl in der zweiten Hälfte seiner Kanzlerschaft den Machtzuwachs des wiedervereinigten Landes nicht offen gegenüber Frankreich ausspielte, rechnete ihm sein Partner im Elysée-Palast hoch an. Der Historiker Kohl wusste um die Befindlichkeiten der politischen Führungsmacht des Kontinents. Vor der Trikolore verneige er sich zweimal, bevor er sich vor der deutschen Flagge verbeuge, pflegte Helmut Kohl in Anlehnung an Konrad Adenauer zu sagen.
Ende einer politischen Freundschaft
Wie eingespielt und vertraut die Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand war, zeigte sich 1995 nach dem Machtwechsel in Paris. Dass nun im Elysée-Palast mit Jacques Chirac ein Präsident aus der gleichen Parteienfamilie wie Kohl herrschte, gab den Beziehungen beider Länder keinen neuen Schwung. Im Gegenteil: Erst unter Bundeskanzler Gerhard Schröder arbeitete wieder ein deutsch-französisches Duo im Gleichklang.
Mit dem Tod Mitterrands am 8. Januar 1996 hatte Kohl einen Freund verloren, soweit Freundschaft unter Politikern möglich ist. Dass ihm bei der Gedenkfeier für den verstorbenen Staatsmann in der Pariser Kathedrale Notre Dame die Tränen in die Augen schossen, ist neben Verdun das zweite Bild, das die Franzosen von einem Kanzler in Erinnerung behalten werden, dem das Verhältnis zu Frankreich stets ein Herzensanliegen war.