60 Jahre BRD
11. Juni 2009Die Nacht jenes 19. Dezember 1989 wird Helmut Kohl nicht mehr vergessen. Tagsüber hatte er mit DDR-Regierungschef Hans Modrow über Wirtschaftshilfen verhandelt. Man hatte ihn so lange aufgefordert, abends eine Rede zu halten, bis er schließlich zustimmte. Eilig war eine Bühne zu Füßen der Ruine der Dresdner Frauenkirche aufgebaut worden. Gegen 19 Uhr betritt der schwergewichtige Kanzler die provisorische Bühne und hält die vermutlich bedeutendste Rede seines Lebens. Ausgerüstet mit schwarz-rot-goldenen Fahnen stehen einige Zehntausend DDR-Bürger vor ihm. Sie brüllen unentwegt "Helmut, Helmut" oder skandieren "Deutschland". Es liegt eine gespenstische Stimmung über dem spärlich erleuchteten Platz vor der zerstörten Kirche. Auf der Bühne läuft den westdeutschen Politikern ein Schauer über den Rücken - eine derartige Atmosphäre hat noch keiner von ihnen erlebt.
Deutschland in Europa
Helmut Kohl weiß, dass seine Rede weltweit übertragen wird. In Moskau, Washington, London oder Paris würden seine Worte sorgsam analysiert werden. Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand ist besorgt über die Vorstellung eines vereinigten Deutschlands mit mehr als 80 Millionen Bürgern in der Mitte Europas. Die britische Regierungschefin Margaret Thatcher tobt über den angeblichen "Größenwahn" der Deutschen. Sie - so lässt sie mehrfach verlauten - ist strikt gegen eine Wiedervereinigung der beiden "Deutschländer". Schließlich habe man sie ja nicht umsonst geschlagen - zweimal in einem Jahrhundert!
Als der Bundeskanzler mit seiner Rede beginnt, steht die Einheit Deutschlands auf dem Spiel. Würde er nationalistische Töne anschlagen, einen falschen Zungenschlag gegenüber den polnischen Nachbarn wählen oder der Neutralität des vereinigten Deutschlands das Wort reden, dann wäre der Widerstand der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sicher. Aber ihm gelingt der Spagat zwischen dem Versprechen, sich für die Einheit Deutschlands einzusetzen und dem Ziel der festen Einbindung eines geeinten Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft - den Vorläufer der heutigen EU.
Vereinigung und Integration
Die Menschen in Dresden jubeln ihm frenetisch zu, sie erleben die Wiedergeburt eines leidenschaftlichen Wahlkämpfers und Politikers. Helmut Kohl hat in Dresden ein Ziel gefunden, für das er sich in den kommenden Monaten mit aller Kraft einsetzen wird: Die Integration des wiedervereinigten Deutschlands in eine Europäische Union.
In Washington und Moskau ruft Kohls Rede großen Respekt hervor. Auch in Frankreich und England wird das Bekenntnis des Bundeskanzlers zu Europa positiv aufgenommen. Die Dresdner Rede zu Füßen der seit dem Zweiten Weltkrieg zerstörten Frauenkirche ebnet den Weg zur Zustimmung der alliierten Kriegsgegner. Sie geben ihren Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung auf.
Karriere in Rheinland-Pfalz
An derartigen historischen Ereignissen teilzunehmen, war dem am 3. April 1930 in Ludwigshafen geborenen Helmut Kohl nicht in die Wiege gelegt. Die Erfahrungen des Krieges machen aus Helmut Kohl einen überzeugten Europäer. Die Nähe zu Frankreich lässt ein besonderes Verhältnis zu den westlichen Nachbarn entstehen. 1946 tritt er der CDU bei und macht in den kommenden 13 Jahren eine beeindruckende Parteikarriere. 1959 zieht er als jüngster Abgeordneter in den Landtag von Rheinland-Pfalz ein. Innerhalb von vier Jahren wird er Fraktionsvorsitzender.
Auch in der Partei strebt er unaufhaltsam nach oben, bis er 1966 zum Landesvorsitzenden gewählt wird. Gleichzeitig wird er Mitglied des Bundesvorstands und 1969 stellvertretender Bundesvorsitzender. Er gilt als politischer Enkel Konrad Adenauers, dem zugetraut wird, aus dem Kanzlerwahlverein eine moderne Partei zu machen.
Ministerpräsident und Kanzler
1969 erreicht Kohl bundesweite Bekanntheit, als er Nachfolger des zurückgetretenen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier wird. Er bleibt bis 1976 im Amt, kann sogar eine Legislaturperiode ohne Koalitionspartner regieren, weil er die absolute Mehrheit erreicht. 1976 ist er zum ersten Mal Kanzlerkandidat, verliert aber gegen den sozialdemokratischen Amtsinhaber Helmut Schmidt. Anschließend sieht sich Helmut Kohl parteininternen Anfeindungen ausgesetzt. Vor allem in der CSU werden seine angeblich fehlenden intellektuellen Fähigkeiten bemängelt. Seine häufig plumpe Art wird ins Lächerliche gezogen. Bösartige Witze über die "Birne" machen die Runde, in Zeitungen wird er zur "Unperson" karikiert. Als er 1980 seinen Favoriten, den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, nicht gegen Franz-Josef Strauß als Kanzlerkandidat durchsetzen kann, scheint sein politischer Stern verglüht zu sein. Doch auch Strauß verliert gegen Helmut Schmidt.
Das ist für Helmut Kohl ein Glücksfall, denn nun hat sein schärfster innerparteilicher Konkurrent kaum noch schlagkräftige Argumente gegen ihn. Fortan arbeitet er mit Geschick und Ausdauer an einer Koalition mit der FDP. Am 1. Oktober 1982 ist es soweit: Mit einem konstruktiven Misstrauensvotum wird Kanzler Helmut Schmidt gestürzt und Helmut Kohl zum Nachfolger gewählt. Was keiner für möglich gehalten hat: Es beginnt die längste Kanzlerschaft in der Geschichte der Bundesrepublik.
Pleiten, Pech und Pannen
In den kommenden acht Jahren gibt es immer wieder Skandale und Affären, in deren Mittelpunkt der Bundeskanzler steht: die so genannte "Flick-Affäre" um Parteispenden; der Besuch mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Friedhof von Bitburg, auf dem SS-Angehörige liegen; peinliche Auftritte vor der Bundespressekonferenz oder ein missratener Vergleich des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow mit dem NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Helmut Kohl bleibt von öffentlicher Kritik unbeeindruckt, legt sich im Laufe der Zeit eine auch äußerlich sichtbare "Panzerung" zu - und regiert weiter.
Zur Bundestagswahl 1991 hat Helmut Kohl schlechte Umfragewerte, er sieht sich einer starken innerparteilichen Opposition ausgesetzt. Auf dem Parteitag in Bremen kommt es zu einer offenen Revolte. Trotz schwerster gesundheitlicher Probleme übersteht Helmut Kohl aber auch diese Krise. Trotzdem ist sein politischer Kurs umstritten. Viele CDU-Parteistrategen haben die Bundestagswahl 1991 schon abgeschrieben. Nun aber kommt ihnen der von Helmut Kohl oft zitierte "Hauch der Geschichte" entgegen.
Glücksfall Maueröffnung
Während eines Staatsbesuchs in Polen wird in Berlin die Mauer geöffnet. In den folgenden Wochen und Monaten wächst der Wunsch nach einer schnellen Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands. Im Gegensatz zu seinem zögernden Herausforderer Oskar Lafontaine setzt Kohl auf die Karte "deutsche Einheit" und gewinnt damit in Ost und West an Popularität.
Im Januar 1990 findet, von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkt, im Kreml eine Auseinandersetzung um die Macht statt. Der Opposition gehen die Reformen von Michail Gorbatschow zu weit, sie will außerdem die Herrschaft über den ehemaligen Ostblock nicht aus der Hand geben. Als klar ist, dass Gorbatschow im Amt bleibt, reist am 10. Februar 1990 eine Delegation der Bundesregierung nach Moskau. Bei diesem und einem weiteren Treffen im Kaukasus im Juli 1990 erhält Helmut Kohl die Zusicherung, dass ein vereinigtes Deutschland in der NATO und der "westlichen Wertegemeinschaft" bleiben kann. Damit steht der deutschen Einheit nichts mehr im Wege. In den kommenden Wochen und Monaten schwimmt er auf einer Welle der Sympathie, hält Wahlkampfreden vor mehreren hunderttausend frenetisch applaudierenden Menschen. Die CDU gewinnt die ersten gesamtdeutschen Wahlen haushoch und Helmut Kohl beginnt den zweiten Teil seiner insgesamt 16 Kanzlerjahre.
Aufbau Ost und europäische Integration
In den kommenden Jahren steht der Aufbau der neuen Bundesländer im Mittelpunkt der innenpolitischen Themen. Er verspricht blühende Landschaften binnen weniger Jahre und übernimmt sich damit erheblich. Während der "Aufbau Ost" teurer wird und länger dauert als gedacht, treibt Helmut Kohl gemeinsam mit seinem Duzfreund, dem französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand, die Reform der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union voran. Am 7. Februar 1992 wird der Vertrag von Maastricht unterzeichnet, der nicht nur die Einführung der gemeinsamen Währung festlegt, sondern auch die Gründung der "Europäischen Union" bedeutet.
Für Helmut Kohl schließt sich der Kreis. Der überzeugte Europäer ist einer der Erbauer des "Hauses Europa", in dem die Deutschen einen ihrer Bedeutung entsprechenden Platz einnehmen - wie die anderen Nationen auch. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 bleibt Helmut Kohl noch eine Legislaturperiode im Bundestag. Überschattet wird diese Zeit von einer zweiten Parteispendenaffäre. Da er sich weigert, die Namen der Spender zu nennen, die jahrelang das so genannte "System Kohl" finanziert haben, gerät er in Distanz zur neuen Parteiführung um Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Seither lebt Helmut Kohl zurückgezogen in Oggersheim bei Ludwigshafen.
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Dеnnis Stutе