Hiddensee als Rückzugsort in der DDR
6. August 2014"In allen Dingen leuchtet hier der Himmel auf, windüberweht." Der DDR-Dichter Hanns Cibulka hat die Insel Hiddensee in zwei als Tagebücher angelegten Werken porträtiert - einmal 1972 in "Sanddornzeit", dann 1985 in "Seedorn". Die Insel erscheint als Fluchtpunkt, nicht nur bei ihm. Sie schuf Distanz zur Rest-DDR, zur offiziell propagierten Fortschrittsgläubigkeit auf dem Festland.
Hiddensee war Grenzgebiet wie die gesamte Ostseeküste und zugleich auch der vergessene Teil der DDR - ohne Autos, mit meist spartanisch anmutenden Unterkünften und einer großen Geschichte als Intellektuellen- und Künstlerreservoir. Die Insel westlich von Rügen galt als Sommer-Rückzugsort zahlreicher DDR-Künstler. Staatsnahe - wie den Schauspieler und Thälmann-Darsteller Günther Simon - zog es ebenso nach Hiddensee wie Querdenker und Kritiker: Literaten wie die Biermann-Unterstützer Günter Kunert oder Stefan Heym, Liedermacher wie Gerhard Schöne oder Barbara Thalheim, Musiker der Punkband "Feeling B" wohnten, lasen und sangen auf der Insel. Die Inselkirche in Kloster bot kritischen Intellektuellen Raum für Auftritte und Lesungen.
Kindheit, Jugend, Stasi - Leben auf Hiddensee
Hiddensee beginnt noch heute mit der Überfahrt. Die Fähre tuckert von Schaprode nach Westen. Am Hafen von Vitte wartet Marion Magas. Die Inselchronistin führt Urlauber auf den Spuren der DDR-Geschichte über die Insel. "Hiddensee war ein Mikrokosmos, ein bisschen exterritorial und ein klein wenig freier als der Rest der Republik", sagt sie. Seit 1975 lebt sie auf der Insel, kam als Sechsjährige von Pirna an die Ostsee, weil ihre Mutter als Lehrerin in Vitte begann. Als sie größer wurde, wurden die Saisonarbeiter in der Gastronomie ihre Freunde: Aussteiger und Andersdenkende, mit abgebrochenen Karrieren auf dem Festland, die auf Hiddensee gestrandet waren. Auch die Karrierepläne von Magas gerieten frühzeitig ins Stocken, als sie als 16-Jährige einen Anwerbeversuch der Staatssicherheit ablehnte und aus Selbstschutz allen von diesem als konspirativ angelegten Treffen erzählte. Der gewünschte Studienplatz für Germanistik rückte in weite Ferne. Magas blieb auf der Insel, arbeitete zunächst wie ihre Freunde in der Gastronomie.
Baden im Meer, Übernachten im Hühnerstall
In den 1980er Jahren gab es auf Hiddensee bis zu 2.000 offizielle Gästebetten, rund 1000 weniger als heute. Die Urlauber kamen in offiziellen Ferienheimen wie dem "Erholungsheim Zur Ostsee" in Vitte oder bei privaten Vermietern unter, die über die Gewerkschaft Zimmer vermieteten. Künstler wohnten meist in Privatquartieren oder eigenen Sommerhäusern wie Gret Palucca. Das Haus existiert nicht mehr, es wurde trotz Protestes 2009 abgerissen. "
"Daneben wurden Pferde- und Hühnerställe im Sommer zu sporadischen Urlaubsquartieren umfunktioniert", erklärt Magas. Wer Glück hatte und ausreichend Hartnäckigkeit bewies, habe sich über die Jahre von einem inoffiziellen zu einem offiziellen Urlaubsquartier hochgearbeitet.
An dem inzwischen morbiden Gründerzeitgebäude in Vitte, dem früheren Erholungsheim "Zur Ostsee", lässt sich noch mühsam der Schriftzug FDGB - der Einheitsgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund - erkennen. Noch vor zehn Jahren musste Magas solche Abkürzungen nicht erklären. Viele der Urlauber, die die Chronistin damals über die Insel führte, stammten aus der früheren DDR, brachten eigene, teils andere Erfahrungen als Magas ein. "Heute interessieren sich vielmehr Urlauber aus den alten Bundesländern für die DDR-Geschichte", sagt die 45-Jährige.
Einfach weg sein, einfach frei sein
Die Inselchronistin, die nach der Wende ihr Wunschstudium nachholte, hat in den vergangenen Jahren DDR-Zeitzeugnisse über Hiddensee gesammelt, auch um falschen Mythen entgegenzuwirken. Weiße Flecken auf der sozialistischen Überwachungslandkarte habe es nicht gegeben, sagt sie. Aber die Stasi hatte es schwer auf der Insel, weil in der territorialen Kleinheit der Insel Anonymität schwer möglich war, die Beobachteten ihr immer wieder ungehemmt ein Schnippchen schlugen und sich gegen ideologische Bevormundung wehrten. Hiddensee beschreibt Magas als Mischung zwischen angepasst und ausgestiegen, zwischen privilegiert und asylsuchend.
Margit Geiger aus Winnenden hat sich der Führung von Marion Magas über die noch immer autofreie Insel angeschlossen. "Man kann auf dieser Insel die Ruhe mit den Händen greifen", sagt die Baden-Württembergerin und schaut vom Dornbusch, der Anhöhe im Norden der Insel, die Küstenlinie entlang. "Wie aus einer vergangenen Zeit." Dieses Gefühl des Weg- und Freiseins müsse für Künstler inspirierend gewesen sein. Schon Gerhart Hauptmann schrieb über Hiddensee: "Nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde."
Martina Rathke (dpa)