Hitler, Kohl und Merkel
9. Dezember 2021Warschau, ein Eckhaus an einer Ausfahrtsstraße, unweit des Stadtzentrums. Ausgerechnet auf dieser Straße fand im Oktober 1943, während der deutschen Besatzungszeit in Polen, die erste Straßenhinrichtung in Warschau statt. Heute prangen an einem Gebäude dicht an dicht verklebte Poster. Darauf zu sehen: die Gesichter von Adolf Hitler und Joseph Goebbels zusammen mit Frank-Walter Steinmeier, Angela Merkel, Helmut Kohl und Konrad Adenauer, dazu Bilder jubelnder Nazis und Hakenkreuzfahnen.
Außerdem abgebildet ist auf den Plakaten auch der aktuelle deutsche Botschafter in Warschau, Arndt Freytag von Loringhoven. An ihn richtet sich die englischsprachige Aufschrift. "Sehr geehrter Herr Freytag", steht da, "können deutsche Behörden, die so sehr mit Rechtsstaatlichkeit in anderen Ländern befasst sind, sich endlich um deutsche Gesetzlosigkeit kümmern und Polen Reparationen für die Schäden und deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zahlen?"
Andere Poster zeigen KZ-Aufnahmen, nackte Häftlinge, Hinrichtungen und daneben erneut Deutschlands Botschafter. Direkt vor der Fassade finden gerade Straßenarbeiten statt. Ein Bagger fährt hin und her, Bauarbeiter sind scheinbar ungerührt von den grausamen Bildern. Erst als ich die Plakate fotografiere, schauen auch sie hin. Gut möglich, dass sich viele Polen bereits an diese Art von bildmächtiger Rhetorik gewöhnt haben. Jedenfalls hing hier erst vor einigen Monaten ein anderes Plakat. "Reparationen machen frei. Ordnung muss sein!", stand darauf. Eine klare Anspielung auf das Tor des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz.
Logo des Kulturministeriums
Die Plakataktion findet kurz vor dem Antrittsbesuch der neuen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Warschau statt. Doch gemessen an der provokativen Botschaft der Plakate und daran, dass auf ihnen immerhin das Logo des polnischen Kulturministeriums prangt, sind die offiziellen Reaktionen aus Deutschland bisher eher noch verhalten. "Der Bundesregierung sind die Plakate, die hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in einer verunglimpfenden Weise zeigen, bekannt", zitiert die Deutsche Presseagentur (dpa) eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts. Man sei deshalb bereits in Kontakt mit der Regierung in Warschau. Die "diffamierenden Darstellungen" würden nicht "die engen und vertrauensvollen deutsch-polnischen Beziehungen im heute vereinten Europa" widerspiegeln.
Entworfen hat die Plakate damals wie heute der Künstler Wojciech Korkuc. Finanziert wurde die Plakataktion unter anderem aus Mitteln des Patriotischen Fonds des Instituts für das Erbe des nationalen Gedankens (IENG), einer staatlichen Kultureinrichtung. Das Kulturministerium in Warschau weist jede Verantwortung für die Aktion von sich. Weder habe das Ministerium die Aktion direkt finanziert, noch habe es die Schirmherrschaft dafür übernommen, teilt eine Sprecherin mit. Das Logo des Kulturministeriums sei auf den Plakaten abgebildet, da dies für Empfänger von Fördergeldern aus dem Patriotischen Fonds vorgeschrieben sei.
Teile und herrsche
Dennoch: Die politische Führung Polens greift immer wieder selbst zu ähnlichen Narrativen wie auf den Plakaten. Der PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski, ohnehin bekannt für seine deutschlandkritische Rhetorik, zeigte sich während der Berliner Koalitionsverhandlungen alarmiert. Bei einer geschlossenen Fraktionssitzung soll er von "schweren Prüfungen", die "über die Europäer gekommen" seien, gesprochen haben: "Deutschland hat die Karten auf den Tisch gelegt und will den Aufbau eines 4. Reiches. Wir werden das nicht zulassen", wird er in polnischen Medien zitiert. Nichts Anstößiges liege darin, erklärte der PiS-Abgeordnete Marek Ast: "Die Deutschen machen im Moment keinen Hehl daraus, Europa in Richtung eines föderalen Staates entwickeln zu wollen, ich nehme an, unter Deutschlands Führung. Wir sind damit nicht einverstanden."
Andrzej Byrt, den früheren Botschafter Polens in Deutschland und Frankreich, erfüllen Ton wie Inhalt solcher Aussagen mit Schmerz. Kaczynskis Worte vom "4. Reich", sagt Byrt der DW, seien eine "bewusste Beleidigung, formuliert durch einen Mann, der die Welt nur aus Büchern und dem Fernsehen kennt und der sich angeblich am liebsten Bullenreiten anschaut". Kaczynskis Grundphilosophie laute: Divide et impera, Teile und herrsche, so Byrt. Er selbst, der im gleichen Jahr wie Kaczynski geboren sei, 1949, bevorzuge eine andere Redewendung: Suaviter in modo, fortiter in re - Sanft in der Art, entschlossen in der Sache. Kaczynski aber benutze Begriffe von "verwerflicher Dummheit" nur, um zu spalten.
"Brüsseler Besatzung"
Worauf Kaczynskis Abneigung gegenüber Deutschland konkret basiere, wisse er nicht, sagt Byrt. Er vermutet jedoch, dahinter könnten Erfahrungen seiner Eltern während des Warschauer Aufstands stehen oder Erinnerungen an das nahezu komplett zerstörte Nachkriegs-Warschau. "Ich erinnere mich selbst an diesen Anblick", sagt Byrt, der als Kind während einer Klassenfahrt das immer noch stark zerstörte Warschau sah und Wut empfand. "Der tiefe Wunsch nach Rache ist in die Köpfe von uns damals kleinen Kindern eingedrungen, was angesichts des Ausmaßes der Verbrechen nicht verwunderlich ist, aber gleichzeitig begannen die, die gläubig waren, Schritt für Schritt einen Weg der Versöhnung anzustreben", sagt der Ex-Diplomat. Er verweist dabei unter anderem auf den berühmten Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965, in dem diese ihren deutschen Kollegen Vergebung anboten und der ein Meilenstein der deutsch-polnischen Aussöhnung war.
Mit ihrem Aussöhnungsangebot konterkarierten die Bischöfe damals auch die Deutschland-Angst vieler Polen, mit der die Machthaber in der Zeit des Realsozialismus immer wieder spielten. 30 Jahre nach der Wende und Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags häufen sich antideutsche und antieuropäische Töne nun wieder. Oft greifen sie historische Leid-Erfahrungen auf: Polen befinde sich unter "Brüsseler Besatzung", meinte unlängst ein PiS-Politiker. Wobei Deutschland oft mit "Brüssel" gleichgesetzt wird.
Antideutsches Dauerfeuer hinterlässt Spuren
"Deutsch" oder "für Deutschland" zu sein wird da schnell zur Belastung. Zigfach wiederholt das regierungsnahe Fernsehen TVP seit Januar 2021 einen Mini-Ausschnitt aus einer Rede des Kaczynski-Gegners und Oppositionsführers Donald Tusk, der Schaltgast einer CDU-Veranstaltung gewesen war. Dahinter steht die Vorwurf, der frühere polnische Premier und Präsident des Europäischen Rats agiere generell im Namen des Nachbarlandes und "verrate" Polen an die Deutschen.
Überhaupt kommt kaum eine Nachrichtensendung bei TVP ohne Spitzen gegen arrogante, neidische oder geschichtsvergessene Deutsche aus. Demoskopen messen zwar keine generelle Abneigung der Polen gegen Deutschland, sehen aber Indizien dafür, dass dieses antideutsche Dauerfeuer Spuren hinterlässt. Laut dem "Deutsch-Polnischen Barometer", einer grenzüberschreitenden Umfrage mehrerer deutscher und polnischer Institutionen, äußerten im vergangenen Jahr 42 Prozent der Polen Sympathie gegenüber Deutschen. Vier Jahre zuvor waren es noch 53 Prozent gewesen. Auch während der ersten Regierungszeit der PiS von 2005 bis 2007 war die Sympathie der Polen für die Deutschen von 45 (2005) auf 30 Prozent (2008) gesunken.
Wer vertritt polnische Interessen am vehementesten?
Die Politologin Ewa Marciniak von der Warschauer Universität betont bei alledem, das "antideutsche Narrativ" sei eigentlich nicht gegen Deutschland gerichtet, sondern diene vor allem der Innenpolitik. "Es findet ein Wettstreit darüber statt, wer die polnischen Interessen am vehementesten vertritt", sagt die Wissenschaftlerin der DW. Tatsächlich habe noch jede polnische Regierung die Position des eigenen Landes in Europa zu stärken versucht. Der Unterschied sei nur, dass die einen auf Zusammenarbeit setzten, die anderen auf Konfrontation und Konflikt.
Die Idee eines föderalen Bundesstaates Europa sei schon deswegen "gefährlich", weil sie von Deutschland komme, meinte der PiS-Chef Kaczynski beim Warschauer Gipfeltreffen rechtsnationaler und rechtsextremer Politiker in Europa am vergangenen Sonnabend (4.12.2021). In einem im Internet veröffentlichten Vortrag arbeitete sich der Politiker in diesem Kreis abermals ausführlich an Deutschland ab.
Ende der Geduld in Berlin?
Freilich sei die Frage, warnt Slawomir Sierakowski, Kommentator des polnischen Webportals Onet, ob mit der neuen Ampelregierung in Deutschland die Geduld Berlins mit Warschau, die insbesondere Angela Merkel ausgezeichnet habe, irgendwann zu Ende ginge. Er erinnert daran, dass keine Ostdeutschen mehr in führenden Positionen der neuen Bundesregierung säßen - und schon deswegen weniger Verständnisvorschuss zu erwarten sei.
Gerade in Bezug auf die neue deutsche Außenministerin, die nun in Warschau erwartet wird, könnte Sierakowski Recht behalten. Annalena Baerbock ist mehr als 40 Jahre nach Kriegsbeginn im westlichen Deutschland geboren, das zu diesem Zeitpunkt eine "Vergangenheitsbewältigung" bereits zum eigenen Selbstverständnis gemacht hatte. Sie ist weniger befangen wegen der eigenen Geschichte und zugleich auch russlandkritischer, etwa in der Frage der Gaspipeline Nord Stream 2, was wiederum in Polen gut ankommt. Sie in eine Reihe mit Hitler oder Goebbels zu stellen, erschiene dann noch absurder, als es bei Kohl oder Merkel ohnehin der Fall ist.