Hoffnung auf das Gute
26. April 2015Leichter Nebel zieht über die Lichtung. Die Heidesträucher sind feucht vom Regen, die Birken zeigen ihr erstes Frühlingsgrün. Ein paar Vögel zwitschern, ansonsten herrscht Stille. Das Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen wirkt friedlich, fast idyllisch - wären da nicht die 13 Massengräber, die sich als riesige Rechtecke von der weitläufigen Wiese abzeichnen. Die Gräber erinnern an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte: an die Vernichtung der europäischen Juden und anderer Minderheiten während der Nazi-Herrschaft.
"Der Schrecken hat sich nicht nur irgendwo weit 'im Osten' zugetragen, hinter der Front oder in den besetzten Gebieten, sondern hier, mitten in Deutschland", sagt Bundespräsident Joachim Gauck. Er ist zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers nach Bergen-Belsen gekommen - wie Hunderte Gäste aus Deutschland und ganz Europa, darunter etwa 90 Menschen, die die Gefangenschaft im Lager überlebt haben. Sie sind an diesen mittlerweile unscheinbaren Ort bei Celle in Niedersachsen gereist, weil sie die Erinnerung an die Opfer wachhalten wollen.
Dank an die britischen Befreier
Allein im Lager Bergen-Belsen kamen zwischen 1941 und 1945 mehr als 70.000 Menschen ums Leben. "In einer Region, in der die Aufklärer Leibniz und Lessing gewirkt hatten; in einer Landschaft, die für viele der Inbegriff deutscher Romantik und Naturverbundenheit ist", betont Gauck und fragt: "Wie war es möglich, dass solche Verbrechen und solche Unmenschlichkeit in einem Land stattfinden konnten, das auf eine so reiche Geschichte und Zivilisation zurückblickte?" Er selbst, sagt der Bundespräsident, habe keine Antwort darauf. Es sei sein "tief empfundenes Bedürfnis", den Befreiern von Herzen Dank zu sagen.
Als die britische Armee am 15. April 1945 das Lager erreichte, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Die Soldaten fanden rund 10.000 Leichen auf dem Gelände. Sie waren von den Nazis ermordet worden oder an Hunger, Durst, Krankheiten und den Folgen der Haft gestorben. Viele der Überlebenden waren kaum von den Toten zu unterscheiden, zahlreiche starben kurz nach der Befreiung. Zu den Opfern des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gehört auch die 15-jährige Anne Frank, deren Tagebuch später weltberühmt wurde. Detailliert hatte die junge Niederländern ihr Leben im "Hinterhaus" in Amsterdam beschrieben, wo sich die jüdische Familie Frank zwei Jahre lang versteckt hielt, bis sie 1944 von den Nazis verhaftet und deportiert wurde.
Angst vor Antisemitismus
Gauck nennt Anne Frank als Beispiel für einen Menschen, der Zeugnis ablegte von dem Unrecht, das sie täglich erlebte. "Wir müssen den Blick auf das Geschehende richten", mahnt der Bundespräsident. Der Schrecken sei nicht aus der Welt verschwunden. "Bewahrt und schützt die Würde und das Leben der Menschen", fordert Gauck die Zuhörer auf. "Wenn uns die Mittel fehlen, um einzuschreiten, wenn wir machtlos sind, können wir immer noch mehr tun, als ohnmächtig wegzusehen. Wir können und müssen dann Zeugen sein und müssen Zeugnis ablegen. Das kann jeder von uns."
Zeugnis ablegen - das liegt auch Maurice Zylberstein am Herzen. Der 81-Jährige wurde im Mai 1944 als Jude nach Bergen-Belsen deportiert und ist heute Mitglied der "Amicale des Anciens Déportés de Bergen-Belsen". "Es schmerzt, dass Grausamkeit und Sadismus vielerorts auf unserer Erde wieder präsent sind", sagt der gebürtige Franzose. Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus - davor warnen auch der Präsident des Jüdischen Weltkongresses Ronald S. Lauder und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD).
Vorsichtiger Optimismus
Die Reihen der Überlebenden des Konzentrationslagers Bergen-Belsen haben sich 70 Jahre nach der Befreiung stark gelichtet. Zylberstein zählt nun auf die Nachkommen, wenn es darum geht, den jüngeren Generationen "das Wissen um das absolute Böse" zu vermitteln. "Ich bin heute mit meinem Enkel hierhergekommen", erzählt er und beendet seine Ansprache mit vorsichtigem Optimismus. "Was Deutschland angeht, so trägt seine Jugend diese so schwere Bürde mit Stärke, mit Mut, mit Würde".
Auch sie halte die Flamme der Erinnerung am Leben. "Hoffnung auf eine Jugend mit Engagement für das Gute - eine Utopie?", fragt Zylberstein und beantwortet sich die Frage mit brüchiger Stimme selbst. "Womöglich nicht."