Holocaust-Überlebende: "Es gibt keinen Gott"
8. November 2024"Die Erkenntnis, dass es keinen Gott gibt, hatte ich mit sechs", erzählt Elisabeth Scheiderbauer. Man schreibt das Jahr 1943; sie liegt mit Lungenentzündung im Gepäcknetz eines Zuges, der sie, ihre ältere Schwester Helga und ihre Mutter aus ihrer Heimatstadt Wien ins Ghetto Theresienstadt in der damaligen Tschechoslowakei bringt. Die drei teilen das Schicksal unzähliger Jüdinnen und Juden vor ihnen. Der protestantische Großvater hat sie am Bahnhof mit Blumen verabschiedet, erinnert sich Elisabeth - eine "abstruse Idee" sei das gewesen, aber er habe gemeint, das gehöre sich so. Ein Stück Normalität in ihrem Leben, das es so schon lange nicht mehr gab.
Kein Schutz für Österreich
Unter dem Druck der Nationalsozialisten, die mit einem gewaltsamen Einmarsch ins Nachbarland drohten, hatte der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 11. März 1938 seinen Rücktritt verkündet, der "Anschluss" an Hitlerdeutschland war vollzogen. Schuschnigg beendete seine Ansprache mit den Worten: "Gott schütze Österreich."
Ihr Vater, ein angesehener Arzt, habe die Gefahr damals nicht wirklich erkannt, sagt Helga Feldner-Busztin, Schwester von Elisabeth Scheiderbauer. Als er dann als Zwangsarbeiter nach Buchenwald deportiert wurde, brach für die Familie eine Welt zusammen. 1939 kam der Vater zurück, "geschoren, zittrig, klapprig, ängstlich", erinnert sich Helga an den einst so stattlichen Mann. Binnen zweier Tage musste er das Land verlassen. Die Mutter hatte ihm ein Schiffsticket von Genua nach Kuba besorgt, doch in dem italienischen Hafen wurde klar: Das Billett war gefälscht, es gab kein Schiff. Der Vater wurde inhaftiert und später von der SS in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau abtransportiert.
Paragraph für "jüdische Mischlinge"
Der Mutter und den Töchtern blieb die Deportation zunächst erspart. Helga und Elisabeth entstammen einer sogenannten Mischehe, der Vater war Jude, die Mutter Protestantin, die 1931 zum Judentum konvertierte. Als "Halbjüdinnen" hatten die Schwestern mehr Rechte als "Volljuden". Doch das änderte nichts an den alltäglichen Schikanen: Helga wurde aus der Schule verbannt und musste den Judenstern tragen. Immer wurde wurden die Schwestern abgeholt, und immer wieder gelang es der Mutter und dem Großvater, die Kinder vor der Deportation zu retten - "wegen dieses besonderen Paragraphen für jüdische Mischlinge".
Doch 1943 gab es kein Entkommen mehr. Als Helga ihr 14. Lebensjahr erreichte, erfolgte der endgültige Deportationsbescheid. Ihre Mutter ging freiwillig mit und nahm die sechsjährige Elisabeth mit. "Meine Mutter", sagt Helga, "war eine starke Frau. Sie war der Meinung, es solle ihr nicht besser gehen als ihrem Mann oder ihren Kindern."
Das Grauen im Muster-Ghetto
Theresienstadt lag nördlich von Prag in der damaligen von den Deutschen besetzen Tschechoslowakei. Die Nazis errichteten in der ehemaligen Garnisonsstadt ein Sammellager. Ausländischen Besuchern, unter anderem vom Internationalen Roten Kreuz, wurde das Lager als Muster-Ghetto in jüdischer Selbstverwaltung vorgeführt - mit Geschäften, einem Kaffeehaus und sogar einem Kinderspielplatz. "Ich erinnere mich, dass ich einmal den ganzen Tag schaukeln musste", erzählt Elisabeth. "Als die Besucher weg waren, verschwand auch die Schaukel."
Diese heile Welt sei eine Propagandalüge der Nazis gewesen, bestätigt Helga: "Seht her, Adolf Hitler schenkt den Juden eine Stadt, wo sie mitbestimmen können und ein gutes Leben haben."
Die Realität sah anders aus. Helga, Elisabeth und ihre Mutter schliefen auf Strohsäcken und waren von Flöhen und Läusen zerbissen. Es gab kaum etwas zu essen. "Ich habe vor Hunger geweint", erzählt Elisabeth. Die Tage vergingen mit Zwangsarbeit, Erniedrigung, Entrechtung. Etwa 140.000 Männer, Frauen und Kinder landeten im Theresienstädter Ghetto, die meisten wurden weiter nach Auschwitz gebracht.
Auch Helgas Name stand drei Mal auf der Transportliste für einen Zug Richtung Osten, mit Glück entging sie dreimal der Fahrt. "Dabei war sie nicht abgeneigt mitzufahren, erzählt ihre jüngere Schwester, "die Freundinnen fuhren ja auch und sie dachte, sie könne dann in der Schweiz oder woanders arbeiten - wo es mehr zu essen gab."
Helga blieb und überlebte, anders als rund 35.000 Insassen Theresienstadts. Ein traumatisches Bild aus ihrer Kindheit begleitete sie ihr Leben lang: In langen Reihen stand sie mit anderen Jungen und Mädchen am Fluss neben dem Lager und musste die an Erschöpfung, Krankheit oder Misshandlung Verstorbenen ins Wasser werfen.
"Im Traum war Wien der Himmel"
Am 8. Mai endete das Martyrium. Die Rote Armee befreite das Lager. Die kleine Familie hatte wie durch ein Wunder überlebt. So schnell wie möglich wollten sie in die Heimat zurück. "Meine Mutter hatte mir vorgeschwärmt, wie wunderschön Wien sei. In meinem Traum war Wien der Himmel, aber als wir dort ankamen, war alles zerbombt", erzählt Elisabeth.
Auch vom Vater hatte die Mutter gesprochen, einen strahlenden Helden aus ihm gemacht - und nie damit gerechnet, dass er Auschwitz überleben würde. Doch er kam zurück, gebrochen und traumatisiert: "Er hatte Alpträume, hat nachts laut geschrien, seine eintätowierte Nummer gerufen." Über seine Erfahrungen im Lager habe er nie gesprochen, nur gesagt: "Ich habe mich nicht getötet, weil ich gehofft habe, dass ich euch wiedersehe."
"Hass ist etwas, was mir völlig unbegreiflich ist"
Das nationalsozialistische Regime war Geschichte, der Antisemitismus aber nicht. "Meine Eltern haben immer gesagt: 'Verrate niemandem, dass du eine Jüdin bist", erzählt Elisabeth. Sie hat erlebt, dass Jahre nach Kriegsende Weihnachten bei einer Ballettprobe in Salzburg das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde, das Lied der Jung-Nazis. Ein anderes Mal sprach sie ein fremder Mann an und zeigte auf ein kleines dunkelhäutiges Mädchen - mit den Worten: "Die da müsse man ins Feuer schicken".
"Hass ist etwas, was mir völlig unbegreiflich ist", sagt Elisabeth. Sie wurde Tänzerin. Das Tanzen war Elisabeths Antwort auf das erlebte Grauen: "Wenn ich mich gefürchtet habe, habe ich getanzt." Ihre ältere Schwester wurde Ärztin, sie starb am 19. Oktober 2024 im Alter von 95 Jahren.
Appell gegen das Vergessen
Der österreichische Filmregisseur Robert Hofferer hat die Lebenserinnerungen von Helga und Elisabeth auf die Leinwand gebracht. "Die Botschaft lautet: Tragt die Erinnerung an die Opfer der Shoah und alle Opfer jener Zeit der Finsternis weiter, weiter und immer weiter", sagt er. "Diese Erinnerung hat kein Ablaufdatum. Die noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben ein Anrecht darauf, gehört und gesehen zu werden."
"Kreis der Wahrheit" ist eine Dokumentation aus Erzählungen der Schwestern Helga und Elisabeth und Sequenzen, die erlittenes Leid in zeitgenössische Kunst umsetzen - als Poesie, Tanz, Malerei oder Gesang. Der Film richtet sich gezielt an "ein junges Publikum, das zu oft zu wenig über den menschenverachtenden und -vernichtenden Terror der Nazis und die Shoah weiß", so Hofferer. Er sei eine Anregung, sich "gegen brandgefährliche Parolen unserer Zeit zu positionieren, nämlich die Ausgrenzung und Verfolgung sogenannter 'Anderer', ob wegen Hautfarbe, Religion, Herkunft oder geschlechtlicher Orientierung."
Der Film "Kreis der Wahrheit" kommt am 7. November 2024 in die deutschen Kinos.