Hongkongs schleichender Verlust der Unabhängigkeit
8. Dezember 2016Mong Kok, das chinesischste Viertel der 7,3 Millionen-Einwohner-Stadt Hongkong: Tagsüber ein Bild aus heruntergekommenen Mietshäusern vor den Glasfassaden nagelneuer Bürotürme. Nachts verschwindet alles hinter dem grellen Lichtermeer aus Millionen LED-Leuchtreklamen, die den Straßen den Glanz einer Weltstadt geben.
Zwischen Modeboutiquen, Handyshops und Imbissbuden, zwischen parkenden Lastwagen, hupenden Taxis, piependen Ampeln, vor denen sich Menschen drängen, führt ein schmaler, unscheinbarer Hauseingang in der Sai Yeung Choi Street hinauf in den 7. Stock. Dort liegt Hong Kong Reader, einer von etwa fünfzig unabhängigen Buchläden der Stadt. Ein kleines Refugium der Literatur, der "Freiheit des Wortes", wie es Buchhändler Daniel Lee nennt.
Vier Dutzend unabhängige Buchläden in Hongkong
Bei Hong Kong Reader sieht es aus wie in einem alternativen Buchladen der 1970er Jahre. Dicht an dicht stehen die Regale im etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum. Es gibt Kaffee für Besucher. An einer Stirnseite Werke von Camus bis Nietzsche, ein wenig Belletristik, Geographie, Geschichte. Gegenüber lange Reihen chinesischer Titel. Dazwischen Second Hand-Bücher. Kunden blättern still in dem, was sie interessiert. Kater Ai Weiwei schaut aus dem Fenster.
Daniel Lee, 35, hat einen Philosophie-Abschluss der Universität. Mit zwei Kommilitonen eröffnete er vor neun Jahren Hong Kong Reader. "Wir wollten nach dem Studium etwas Eigenständiges machen, Menschen treffen, mit denen wir geistesverwandt sind ". Das Internet sei unzensiert, beschreibt er den Informationsfluss in Hongkong. Facebook und Google ließen sich aufrufen, Seiten, die in Festlandchina nicht verfügbar sind. "Hongkong ist von der großen Chinesischen Firewall ausgenommen", so Lee. Gleichzeitig würden Verleger verhaftet, nicht durch Hongkongs Behörden, sondern auf Druck der CCP, der Kommunistischen Partei Chinas.
Rückkehr nach China auf obskuren Wegen
Er selbst fühle bislang keine direkte Bedrohung. Auch nicht nach den Entführungen von Lee Bo, Lam Wing-kee und anderen Buchhändlern, die zwischen Oktober und Dezember 2015 zunächst spurlos verschwanden. "Nach meinem Verständnis wurden diese Männer verhaftet bzw. gekidnappt, weil sie nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch Verleger sind. Sie bringen Bücher über chinesische Politik heraus, über parteiinterne Auseinandersetzungen in Peking, sehr sensible Themen."
Hong Kong Reader ist ein klassischer Buchladen, wenn auch mit ganz eigener Thematik. "Die meisten Bücher verkaufen wir aus einem Genre, das wir selbst entwickelt haben: Hongkong-Studien", sagt Daniel. "Das umfasst Politik, Gesellschaft, Geschichte und ähnliches." Alle chinesischen Bücher werden hier in Hongkong gedruckt. Die Bestseller befassen sich mit unserer sozialen Bewegung, vor allem der "Umbrella Movement".
Literatur aus Gesellschaft und Politik
Die Pro-Demokratie-Bewegung im Zeichen des Regenschirms als Widerstandssymbol brachte seit Ende 2014 Zehntausende auf die Straßen. Vor allem Studenten protestierten gegen die Einschränkung von Bürgerrechten, die der Nationale Volkskongress in Peking beschlossen hatte. Ein Prozess der steten Aushöhlung der Teilautonomie Hongkongs. Die "Menschen sind alarmiert", sagt Buchhändler Lee.
Der politische Druck wächst. Inzwischen stellen sogenannte "Pro-Peking"-Parteien mehr als die Hälfte der Parlamentarier des Legislativrats, der gesetzgebenden Versammlung Hongkongs. Im November 2016 wurde zwei frei gewählten Vertretern aus der "Umbrella Movement" auf Intervention Pekings hin der Parlamentarierstatus aberkannt. Der Volkskongress legte dazu ein Gesetz in seinem Sinn aus, das als "Basic Law" 1997 auch beschlossen worden war, um der Stadt das Gegenteil zu garantieren, den Grundsatz der Teilautonomie: ein Land, zwei Systeme.
Autonomiestatus mausetot
Daniel Lee jedenfalls ist ernüchtert und erklärt, "dass dieser Grundsatz hier und jetzt mausetot ist". Peking behalte sich im Streitfall das alleinige Entscheidungsrecht vor. Die Unabhängigkeit "unserer Gerichtsbarkeit ist damit vorbei".
Es ist ein breites, sukzessives Vorgehen der Pekinger Führung, dessen negative Folgen für Hongkong und seine Bewohner immer deutlicher zutage treten: Übernahme der Wirtschaft, der Presse, von Radio und TV. Eine schleichende Entmündigung der Legislative, offene Repression gegen prodemokratische Bewegungen. Die Inhaftierung unliebsamer Verleger. Vor diesem Hintergrund stellt Daniel Lee fast zwanzig Jahre nach der Rückkehr Hongkongs ins Reich der Mitte seine desillusionierte Prognose.
Bleiben oder auswandern
Es werde der Stadt sehr schwer fallen, ihre Teilautonomie zu erhalten, solange sie Teil Chinas ist. In den letzten zwei Jahren seien die Aussichten dafür deutlich düsterer geworden, vor allem seit gewählten Volksvertretern unerwünschter politischer Bewegungen wie der "Regenschirm-Bewegung" der Zugang zum Hongkonger Parlament verwehrt werde.
Die Hoffnung liege bei den Menschen in Hongkong. Wenn sie bereit seien, für ihre Freiheit und Autonomie zu kämpfen, dann gebe es vielleicht eine Chance gegen den Machtapparat der Kommunistischen Partei in Peking. Die Studenten hätten den Anfang gemacht mit ihren Protesten seit 2014. Hongkonger Anwälte demonstrierten im November dieses Jahres gegen die Anwendung des "Basic Law". Lam Wing-kee, einer der entführten Buchhändler, machte nach der Entlassung im Juni 2016 seine Inhaftierung öffentlich und beschrieb die Repressionen während der Internierung in China. Die Hongkonger wachen auf. "Realistischerweise muss man sagen, dass es nicht einfach wird. Wir werden kämpfen müssen, das ist das einzige, was wir tun können". Aber er wisse von Menschen, so Lee, die daran dächten auszuwandern. Doch eigentlich wolle er diesen Ort, an dem er so lange gelebt habe, nicht aufgeben: "Warum soll ich gehen, warum geht ihr nicht?"