Humanitäre Hilfe in Afghanistan geht weiter
6. September 2021Die Machtübernahme der Taliban und der damit verbundene Zusammenbruch staatlicher Strukturen, soweit sie vorhanden waren, hat die allgemeine Notlage verstärkt. Eine lang anhaltende Dürre hat das Land im Griff, es stehe vor einer humanitären Katastrophe oder sei bereits mittendrin, sagt Simone Pott, Pressesprecherin der Welthungerhilfe, gegenüber der DW. "Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, also auf Nahrung, Trinkwasser, medizinische Versorgung, Unterkünfte." Jeder dritte Afghane leide im Moment an Hunger.
Die Welthungerhilfe ist seit Jahren unter anderem in zwei nördlichen Provinzen, Samangan und Dschausdschan, engagiert. Die Lage dort war noch nie gut, sagt Pott. In den Dörfern seien teils bis zu 60 Prozent der Häuser zerstört oder dringend reparaturbedürftig. "Zudem habe die Mehrheit der Bewohner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. "Das heißt, die Menschen sind entweder abhängig von Wasserlieferungen oder sie müssen minderwertiges Wasser kaufen, das eigentlich nicht zum Trinken geeignet ist."
Not der Frauen und Kinder
Viele Frauen lebten allein mit ihren Kindern, berichtet die Sprecherin der Welthungerhilfe. Die Männer seien entweder gestorben, lebten als Flüchtlinge in den Nachbarländern oder seien an Kämpfen beteiligt. "Und je nachdem, was die Taliban anordnen, ist es für diese Frauen schwierig, das Haus zu verlassen. Viele von ihnen wissen nicht, wie sie Lebensmittel bezahlen sollen. Zudem haben wir festgestellt, dass nicht wenige Kinder von ihren Eltern alleingelassen wurden."
Wie ist Hilfe unter der Herrschaft der Taliban möglich? Es gebe logistische Schwierigkeiten, so Pott. "Ein großes Problem ist das im Moment noch nicht komplett funktionierende Bankensystem. Darum können wir im Moment keine Überweisungen vornehmen. Die braucht es aber, wenn man Hilfsgüter ins Land bringen will, denn die Transporteure müssen bezahlt werden. Das ist vor allem in den östlichen Gebieten ein großes Problem."
Zusammenarbeit mit Einschränkungen
Hinzu kämen die Vorschriften der Taliban. Die seien sehr unterschiedlich. In Kabul sei die Situation derzeit unklar, die Mitarbeiterinnen arbeiteten von zuhause aus. "Im Norden haben die Taliban inzwischen einen Brief an die Hilfsorganisationen verfasst. Darin fordern sie uns auf, unsere Arbeit fortzusetzen. Das haben wir als Zeichen genommen und fangen wieder an." In der im Osten des Landes gelegenen Provinz Nangarhar hingegen hätten die Taliban teils sehr strenge Vorschriften erlassen. "Insgesamt wird es sehr darauf ankommen, welche Rahmenbedingungen die Taliban schaffen werden. Unter welchen Bedingungen können etwa die Frauen arbeiten? Darauf wird es entscheidend ankommen, denn wir brauchen natürlich professionelles, gut ausgebildetes Personal, ganz gleich ob es sich um Männer oder Frauen handelt."
Die Taliban hätten seiner Organisation bislang keine Schwierigkeiten bereitet, sagt der in Düsseldorf praktizierende Radiologe Naim Ziayee, Vorsitzender des Vereins Afghanische Kinderhilfe Deutschland e.V. "Nach einer kurzen Pause haben wir unsere Kliniken und unsere Schule vor Tagen wieder geöffnet." Zwar kämen wieder Patientinnen und Patienten zur Behandlung, insgesamt aber seien es weniger: "Die Leute haben aufgrund der unsicheren Lage Angst." Auch die Schulen würden wieder besucht, allerdings kämen deutlich weniger Schülerinnen als üblich. "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hingegen präsent."
Bislang gute Erfahrungen mit neuen Machthabern
Die beiden Kliniken des Vereins befinden sich in den Außenbezirken von Kabul. In der im Nordosten der afghanischen Hauptstadt gelegenen Klinik kenne man die Taliban seit Jahren, sagt Ziayee. "Einige unserer dortigen Patienten sind Angehörige der Taliban." Dort funktioniere die Zusammenarbeit mit ihnen sehr gut. "Nach der Machtübernahme haben die Taliban uns versichert, dass wir unsere Arbeit ohne Probleme weiterführen können. Sie haben uns sogar gebeten, dies zu tun."
Auch in der zweiten Klinik im Südwesten Kabuls kenne man die Taliban. Das sei auch darum wichtig, weil diese Klinik dort die einzige ihrer Art sei. Sie befinde sich im Einzugsgebiet mehrerer hunderttausend Menschen. "Dort ist der Kontakt noch nicht so eng. Aber die Taliban haben unsere Arbeit nicht behindert." Allerdings stören sich die Mitarbeiterinnen der Kinderhilfe daran, dass die Taliban immer ihre Waffen bei sich trügen. Das mache insbesondere den Schülerinnen und Patienten Angst. "Darüber wollen wir mit ihnen sprechen, aber das braucht natürlich Zeit." Insgesamt aber laufe die Arbeit in beiden Einrichtungen weiter. "Bis jetzt gab es keine Einschränkungen", sagt Ziayee.
Doch ganz unabhängig davon, welche Regierung an der Macht sei, werde medizinische Hilfe gebraucht. "Ich gehe darum davon aus, dass die Taliban sich nicht einmischen werden und dass auch alle Frauen weiterarbeiten. Wenn wir nicht behindert werden, werden wir unsere Arbeit auf jeden Fall fortsetzen können. Davon gehen wir derzeit aus."
"Bewegungsfreiheit sogar leicht verbessert"
Auch bei seiner Organisation liefen die Projekte weiter, sagt Christian Katzer, Geschäftsführer der deutschen Sektion der NGO "Ärzte ohne Grenzen". "Die Patientinnen und Patienten haben weiter Zugang zur Gesundheitsversorgung. Unser gesamtes Personal kann zur Arbeit kommen, so dass wir diese überlebenswichtige medizinische Hilfe wirklich anbieten können."
Behindert würden die Mitarbeiter nicht. "Im Gegenteil, wir haben von den lokalen Behörden die Aufforderungen bekommen, weiter zu arbeiten. In einigen Gebieten, in denen wir uns in der Vergangenheit nicht ohne Sicherheitsvorkehrungen bewegen konnten, wurden wir jetzt hineingebeten." Dort habe sich die Bewegungsfreiheit sogar leicht verbessert. "Es ist oft so, dass es einfacher für uns ist, wenn nur eine Gruppe ein Land oder eine Region kontrolliert. Denn dann müssen wir auch nur mit einer Seite reden."
Probleme könnte der Umstand bereiten, dass die Versorgung über den Flughafen Kabul derzeit unterbrochen sei. Dadurch könne sich der Zugang zu Gesundheitsversorgung für viele Menschen eventuell verschlechtern. "Allerdings hatten wir das große Glück, dass kurz bevor der Flughafen von Kabul durch die militärische Luftbrücke in Beschlag genommen wurde, noch eine Lieferung dort landen konnten. Wir konnten diese Materialien in den letzten Tagen im Land verteilen."
"Wir sollten die Afghanen nicht bestrafen"
Das Verhältnis zu den Taliban sei wohl auch deswegen so problemlos, weil "Ärzte ohne Grenzen" politisch nicht Partei nehme, sagt Katzer. Dies sei eine Grundvoraussetzung, um überhaupt arbeiten zu können. "Und natürlich waren wir mit den Taliban auch in den letzten Jahren in Kontakt. Wir haben in Gebieten gearbeitet, in denen sie präsent waren." Zwar sei die Arbeit während der vergangenen Kämpfe beeinträchtigt worden. "Aber durch die Verhandlungen mit den Taliban wissen wir sehr gut, wer die sind und sie wissen, wer wir sind. Da gibt es ein gegenseitiges Verständnis, dass es uns ermöglicht, weiterhin zu arbeiten."
Trotz des politischen Machtwechsels in Afghanistan gelte es die Proportionen zu beachten, sagt Naim Ziayee von der Afghanischen Kinderhilfe Deutschland. "Wenn wir alle Taliban zusammenrechnen, kommen wir auf rund 200.000 Personen. Aber die afghanische Bevölkerung besteht aus 35 Millionen Menschen. Die sollten wir nicht bestrafen."