Amnesty kritisiert Flüchtlingspolitik
24. Februar 2016DW: Haben Sie eigentlich jemals einen so pessimistischen Jahresbericht veröffentlich?
Selmin Caliskan: Dieser Krieg in Syrien und auch die große Verantwortungskrise im Umgang mit den Flüchtlingen weltweit aber vor allen Dingen auch in der EU, das ist ja sozusagen die Situation, das Setting auch für andere Menschenrechtsverletzungen weltweit. Und das ist schon ziemlich schlimm letztes Jahr gewesen. Und dieses Jahr geht es auch weiter.
Die EU setzt weiter auf Abschottung und wird weiter versuchen ihre Grenzen aufzurüsten, um die Flüchtlinge davon abzuhalten nach Europa zu kommen. Dass es hinten und vorne nicht aufgeht, das wissen eigentlich alle, aber trotzdem wird auf die Abschottung der Grenzen gesetzt, statt daraus endlich legale und sichere Zugangswege zu schaffen und die Flüchtlinge anständig humanitär zu versorgen in den Ländern in die sie schon geflüchtet sind - wie zum Beispiel in Libanon, Jordanien und in der Türkei.
Im Bericht wird die Bereitschaft vieler Bürger sich für die Flüchtlinge zu engagieren und auch konkret zu helfen, positiv erwähnt. Doch spätestens seit der Silvesternacht in Köln scheint zumindest in Deutschland die Stimmung gekippt zu sein?
Ja, die Silvesternacht hat einiges verändert - durch den medialen Diskurs aber natürlich auch im gesellschaftlichen Diskurs. Dabei ist es für uns so, dass es kriminelle Straftäter gibt und das muss man auch ansprechen, auch innerhalb von Geflüchteten. Aber es darf nicht dazu führen, dass eine ganze Gruppe von Menschen, die aus bestimmten Ländern kommen, unter Generalverdacht gestellt wird.
Meinen Sie denn, dass in der Gesellschaft generell diese Willkommenskultur vergessen ist?
Nein, sie ist nicht vergessen, aber was ich schwierig finde ist, wenn Politiker und Politikerinnen ihre politische und moralische Führungsaufgabe nicht richtig wahrnehmen und immer weitere Maßnahmen schnüren, wie jetzt zum Beispiel das Asylpaket II, wo ganz klar das individuelle Recht darauf Asyl zu suchen, untergraben wird. Das gibt eine Botschaft in die Gesellschaft hinein, nämlich dass das Recht auf Asyl gar nicht per se so bestehen bleiben kann.
Was erwarten Sie vom EU-Gipfel am 6. März?
Es gibt ja etwas Positives, nämlich dass überhaupt über das Thema Neuansiedlung von Flüchtlingen letztes Jahr gesprochen wurde und dass ein Kontingent angeboten wurde für Neuansiedlungsplätze. Das ist sehr wichtig und auch die Relocation, also die Umverteilung von den Hotspots. Das ist aber einen Tropfen auf den heißen Stein bisher.
Würden sie sagen, die EU ist nur solidarisch, wenn es ums Geldverteilen geht?
Die EU ist solidarisch wenn es um die Freizügigkeit von Dienstleistungen und Gütern geht, aber nicht wenn es um die Mobilität und Freizügigkeit von Menschen geht, und das muss sich ganz, ganz grundsätzlich ändern.
Es wird auch zum Vorteil der EU sein, weil die EU Weiterentwicklung braucht und sie braucht auch Migration, sie braucht Menschen für die Zukunft und deswegen muss sie jetzt auch investieren.
Das ist natürlich auch ein Diktat der Humanität. Die EU hat eine eigene Menschenrechtskonvention und das ist ein ganz starker Pfeiler der EU. Und die EU als Menschenrechtsverteidiger und Menschenrechtsverfechter muss ihrer Rolle jetzt gerecht werden und zeigen, dass sie gerade in der Krise Humanität walten lässt. Humanität bekommt man nicht umsonst. Und Humanität beweist sich vor allen Dingen in schwierigen Lagen und nicht in Lagen, wo alles OK ist.
Selmin Caliskan ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Das Gespräch führte Helle Jeppesen.