Husten im Konzert
7. März 2013
Meine Frau und ich sitzen in der Oper. Das ist selten. Sie hasst die staatlich subventionierten aber höchst unbequemen Sitze, die Enge und den Geruch von Schweiß und schlechtem Parfüm. Oft findet sie auch die musikalische Darbietung zu bemüht und spaßfrei. Und sie raucht gerne mal eine. Doch "Nabucco" ist ihre Lieblingsoper: Den Gefangenenchor macht Regisseur Hans Neuenfels zu Hummeln, die mit stacheligen Hinterteilen ins Publikum wippen. Und meine Frau kreischt vor Freude.
Ihr Nachbar hustet. Hustet nachdrucksvoll. "Das ist doch witzig!", ranzt meine Frau ihn an, als wäre Kommunikation im Konzertsaal das Normalste der Welt. Andere im Saal beginnen auch zu husten. Aber das richtet sich glaube ich weniger gegen meine Frau als gegen die Hummeln. Oder die Inszenierung. Oder gegen den Regisseur persönlich.
Promenieren, Parlieren und Prösterchen
Konzertbesuche sind nicht immer ein reines Vergnügen. Noch zu Mozarts Zeiten war Musikhören immer auch verbunden mit Promenieren, Parlieren und Prösterchen. Aber dann kam das 19. Jahrhundert und Benimmregeln setzten sich immer mehr durch. Wer Klassik verschmähte, lief Gefahr, aus der ökonomischen, intellektuellen und moralischen Elite verstoßen zu werden. "Soziologisch gesehen war weniger wichtig, welche Musik vorgetragen wurde. Was besonders zählte war, wie diese Musik sozial verstanden wurde", schreibt Prof. Dr. Andreas Wagener von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hannover. Er untersuchte den Sinn der gängigen Konzertetikette.
Trennung von Künstler und Publikum
"Benimmregeln sind soziale Konstrukte", schreibt Wagener. Konzertvereine, Musiker und Musikjournalisten versuchen bis heute, ihr Publikum mit Regeln, Gesten und Ermahnungen zu erziehen. Musiker sollen ihr Bestes geben und die Partitur wahrheitsgemäß und bedeutungsvoll umsetzen. Das Publikum soll sich darauf konzentrieren, soll ernsthaft und stillschweigend zuhören. Das fordert seinen Tribut: "Im Konzertsaal wird mehr als doppelt soviel gehustet wie im normalen Leben. Husten liegt klar vor schreien, weglaufen oder mit den Füssen scharren!"
Pianist Alfred Brendel reagiert besonders empfindlich auf Geräusche in seinen Konzerten. In Hamburg mahnte er sein Publikum: "Entweder Sie hören auf zu husten oder ich höre auf zu spielen!" Es ward still im Saal. Das spricht für Andreas Wagener Bände: "Menschen können bewusst husten. Sie können Husten aber auch bewusst unterbinden. Konzerthusten ist also – anders als Niesen, Schluckauf oder Gähnen – nicht zufällig", schreibt er.
Hustensymphonie
Aber auch für Wagener gehört Husten zum Konzert. "In Anbetracht der Tatsache, dass jeder mal husten kann, ist der mögliche physikalische Reflex einer der ganz wenigen akzeptierten Möglichkeiten, im Rahmen der Etikette aktiv zu partizipieren", schreibt er. Der Ökonom zitiert da den Dirigenten Sir Colin Davis: "Konzertbesucher husten, weil sie gelangweilt sind!"
Der deutsche Humorist Loriot schenkte den Berliner Philharmonikern zum 100. Jubiläum eine "Hustensymphonie", bei der es seinen Worten zufolge "gelang, konzertimmanente Geräuschsymptome zur Bereicherung des Werkes zu integrieren". Luft, gewöhnlich in Folge einer Reizung der Atemwege, stoßweise, heftig und mehr oder weniger laut aus der Lunge durch den Mund herausgepresst, beschreibt der Duden das Phänomen.
"Die Lautstärke des Hustens wird höher, wenn die Musik unbekannter und komplizierter ist", bringt Wagener die moderne Konzertrealität auf den Punkt. Und Pianist Alfred Brendel schreibt wutentbrannt sogar ein Gedicht über "Die Huster von Köln", denen er "genaueste Kenntnis der Musikstücke" attestiert, "damit bei leisen Stellen - besonders in der lähmenden Stille von Generalpausen - deutlich gehustet werden kann".
Ein Statement husten
Zeigt da ein "Kenner" sein Missfallen an dem Werk oder an der Darbietung? Dient Husten da als Rückversicherung für die kritische Haltung anderer Konzertgäste? Denn: "Je ungebildeter – also unsicherer – ein Publikum, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines umlaufenden Hustenanfalls!", befindet Wagener.
Er freut sich, so schreibt er der DW, "über die fast schon unangemessen große und internationale Resonanz, die mein Text über einen an sich trivialen Gegenstand findet. Es passiert einem Ökonom nicht allzu oft, dass seine Gedankenspielereien sogar im Kulturbereich wahrgenommen werden."
Aktive Partizipation
Husten im Konzert nervt. Das streitet Wagener gar nicht ab. "Aber ohne Publikum kein Konzert. Und da haben sowohl Etikette als auch deren Bruch die gleiche Quelle: Musik und ihre 'richtige' Wahrnehmung gehören mit zur Bildung von Identitäten. Sie vermitteln Prestige und Status, machen Ausgrenzung und Aufnahme möglich, produzieren Konformität und festigen ihre Werte.", schreibt Wagener.
Das scheint tatsächlich zu provozieren. "Er schließt klassische Musik kurz mit sozialer Oberschicht, und die wiederum mit einem manierlichen Benehmen, das kein anderes Ziel hat als soziale Abgrenzung!", beisst ein deutscher Feuilletonist zurück.
Wie viel Zündstoff im Konzerthusten bis heute liegt, zeigt Wageners Missfallen: "In den deutschsprachigen Medien, anders als im englischen Ausland, war die Berichterstattung zu meinem Aufsatz komplett spaß- und humorfrei und zudem oft noch sinnentstellend."
"Die strenge Etikette im Konzertsaal ist wie ein Überbleibsel elitären Denkens!", findet meine Frau. "Genuss und Hingabe gelten weniger. Bildung zählt. Das törnt vor allem jüngere Leute ab." Sie bleibt deshalb gerne mal zu Hause, schenkt sich ein Glas Rotwein ein, zündet sich eine Zigarette an und legt eine CD ein. Eine tolle Live-Aufnahme. Nur das Husten wurde weggemischt.