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Ich rieche was, was du nicht siehst

Ina Rottscheidt10. Dezember 2004

Dienstag ist rosa, das hohe C ist grün. Töne sehen, Sprache in Farben erleben: das sind die Empfindungen von Menschen, die die seltene Gabe der Synästhesie besitzen.

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Kann man Flugzeuglärm sehen?Bild: Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik

Erstes Schuljahr, Kopfrechnen: "Vier plus vier ist - Rot!" Großes Gelächter im Klassenraum, doch Jana Schneider ist sich sicher: die Acht ist rot. Für den Fotografen Jonas Merk hingegen klingen Trompetentöne gelb und Saxofone spielen lila.

Sie sind zwei von schätzungsweise 100.000 Synästhetikern in Deutschland. Bei diesem Phänomen löst ein Sinnesreiz neben der normalen Wahrnehmung unwillkürlich zusätzliche Sinnesempfindungen aus. Synästhetiker schmecken Formen, sehen Gerüche oder hören Farben, wobei letzteres am häufigsten verbreitet sei, wie Prof. Henning Scheich vom Institut für Neurobiologie in Magdeburg erklärt.

Von wegen blühende Fantasie

Grund für diese Wahrnehmungen sei aber nicht etwa eine außergwöhnlich blühende Fantasie: "Bei genuinen Synästhetikern, also die seit Kindesbeinen über diese Wahrnehmung verfügen, sind die Verknüpfungen fixiert", sagt Scheich. Häufig liest er seinen Probanden eine Liste mit mehreren hundert Wörtern vor und selbst nach Monaten könnten diese noch exakt die gleichen Empfindungen beschreiben, die sie mit diesen Wörtern verknüpfen. "Simulanten schaffen das nicht. So unterscheiden wir Synästhetiker von Menschen, die einfach nur frei assoziieren."

Wissenschaftlich erklärt ist dieses Phänomen noch nicht: "Es gibt die Hypothese, dass bei Synästhetikern Nervenverbindungen erhalten geblieben sind, die normalerweise nach dem Babyalter verloren gehen", erklärt Scheich. In dem Buch "Welche Farbe hat der Montag?" bezeichnet der Synästhesieforscher Hinderk M. Emrich von der Medizinischen Hochschule Hannover das Phänomen als einen "Kurzschluss im Kopf."

Pfeffersauce schmeckt nach Dreiecken

Theoretisch sind die Sinnesverschmelzungen in jeder Kombination möglich. "Der Buchstabe A etwa ist für den einen blau, für einen anderen riecht der Ton C nach Zitrone, und für einen Dritten schmeckt Pfeffersauce nach spitzen Dreiecken. Das ist höchst individuell," erklärt Markus Zedler von der Medizinischen Hochschule Hannover. Er beschreibt das Phänomen als eine "Überfunktion des Gehirns". Hierbei seien verschiedene Gehirnbereiche derart vernetzt, dass im Bewusstsein Reize ausgelöst würden, die normalerweise unterdrückt würden.

Ähnliches tritt auch bei nicht Synästhesie begabten Personen auf, wenn sie halluzinogene Drogen nehmen. "Reizüberflutung oder Wahnzustände wie bei Drogenmißbrauch sind jedoch bei Synästhetikern kaum bekannt", sagt Scheich. Er und seine Kollegen betrachten das Phänomen auch nicht als Krankheit. Im Gegenteil: "Viele Testpersonen können sich Dinge leichter merken, weil sie die Dinge quasi doppelt abspeichern", weiß Zedler. So verfügten viele etwa über ein ausgeprägtes Zahlengedächtnis, weil ihnen die Ziffern als Farbgemälde vor Augen ständen.

Exoten unter den Mitmenschen

"Häufig ist aber der Leidensdruck hoch, weil Synästhetiker von ihren Mitmenschen nicht ernst genommen und belächelt werden", weiss Professor Scheich aus Gesprächen mit Betroffenen. So erging es auch der Synästhetikerin Sabine Schneider: "Als ich meiner besten Freundin erzählte, dass ihr Name altrosa klingt, wollten mich meine Verwandten in die Psychiatrie stecken", erinnert sie sich.

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Improvisation VII
Synästhetiker in berümter Tradition: Kandinski

Mittlerweile steht sie zu ihrer Begabung und hat es sogar zu ihrem Forschungsgebiet gemacht. Die Erwachsenenpädagogin hat über dieses Thema an der Uni Leipzig promoviert. Und immerhin steht sie als Synästhetikerin in berühmter Tradition: Schon der Maler Wassily Kandiski soll diese außergewöhnliche Wahrnehmung gehabt haben: Er summte Farbtöne, bevor er sie auf einer Palette mischte.