Ikonen und Steine: Gewalt gegen Minderheiten in Russland
4. Juni 2006
Für Nikolai Aleksejew kam der Angriff der Rechtsradikalen nicht überraschend. Unter den Augen der Polizei prügelten Skinheads und militante Orthodoxe auf die Teilnehmer der ersten Moskauer Schwulen- und Lesbenparade in Russland ein. "Das ist auch ein Resultat der Politik Luschkows", erklärt der Gründer der Webseite Gay Russia. "Er hat die Gewalt praktisch abgesegnet." Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow hatte die geplante Demonstration mit dem Hinweis verbieten lassen, die Stadt könne für die Sicherheit der Teilnehmer nicht garantieren. Gleichzeitig stellte das Stadtoberhaupt klar, dass ihn nicht allein die Sorge um die Sicherheit der Teilnehmer umtreibt. Schwulenparaden in Moskau seien "absolut unakzeptabel", sagte der Bürgermeister, der sich gern in nationalistischen Tönen übt. "Wer von den normalen Prinzipien zur Lebensgestaltung und der sexuellen Orientierung abweicht, muss das nicht öffentlich zur Schau stellen."
"Personen nichttraditioneller Orientierung"
Das fand auch die eigenartige Koalition aus kahlrasierten Jugendlichen und ikonentragenden Mütterchen, die bereitstanden, um den "Personen nichttraditioneller Orientierung", wie Schwule und Lesben in Russland oft verschämt genannt werden, eins auf die Nase zu geben. Weil dabei auch der deutsche Grünen-Politiker Volker Beck verletzt wurde, hat der Zwischenfall auch im Ausland für Schlagzeilen gesorgt. Dabei war es nicht das erste Mal, dass Skinheads und militante Orthodoxe homosexuelle Veranstaltungen angriffen. Bereits Anfang Mai hatten Extremisten eine Moskauer Schwulenparty belagert; die Besucher mussten von der Polizei evakuiert werden. "Gewalt gegen Homosexuelle ist weit verbreitet", sagt der Aktivist Aleksejew. "Es sind schon Besucher beim Verlassen von Clubs zusammengeschlagen und sogar getötet worden."
Generell scheint in Russland die Gewalt gegen Minderheiten zuzunehmen. Im Januar war ein Rechtsextremist in eine Moskauer Synagoge gestürmt und hatte neun Menschen mit Messerstichen verletzt. Ende März verletzten Skinheads in St. Petersburg ein neunjähriges Mädchen aus Mali lebensgefährlich. Einige Tage später töteten Rechtsradikale einen Studenten aus dem Senegal und Ende April wurde in Moskau ein Schüler armenischer Abstammung erstochen. 14 Morde aus rassistischen Motiven allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres hat die Menschenrechtsorganisation amnesty international gezählt. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht. Meist werden die Verbrechen von den Behörden als einfaches "Rowdytum" eingestuft.
Kampagne gegen Neonazis
Intensiver als noch vor einigen Jahren wird allerdings in den staatlich kontrollierten Medien über rechtsradikale Überfälle berichtet. "Es gibt eine regelrechte Kampagne gegen Neonazis", sagt Andreas Umland, der den russischen Rechtsextremismus untersucht hat. Trotz der häufigen Übergriffe stehe die Skinhead-Szene in der Gesellschaft relativ isoliert da. Mit der Symbolik des einstigen Kriegsgegners Nazideutschland lässt sich in Russland keine Sympathie gewinnen.
Beunruhigender als den offensichtlichen Neonazismus findet Umland die "Zunahme antiwestlicher und ausländerfeindlicher Stimmen im Mainstream-Diskurs". Rechtsextreme Apologeten, die bis in die neunziger Jahre völlig isoliert gewesen seien, träten jetzt im staatlichen Fernsehen auf. Und im Herbst hatte die Rodina-Partei für die Wahlen zu Moskauer Stadtduma mit einem Wahlspot kandidiert, auf dem Kaukasier zu sehen waren, die Melonen essen und die Schalen auf den Boden werfen. "Lass uns den Müll wegräumen", warb die Partei, deren Name übersetzt "Heimat" bedeutet. Der Partei wurde zwar daraufhin die Teilnahme an den Wahlen untersagt, bei den letzten Dumawahlen kam Rodina aber auf neun Prozent.
Widersprüchliche Orthodoxie
Im ideologischen Angebot haben die verschiedenen nationalistischen Gruppen so ziemlich alles: von kruden Rassenlehren und Antisemitismus bis zur Idee einer eurasiatischen Vielvölker-Großmacht. Gemeinsamer Nenner: Antiamerikanismus und die Berufung auf die orthodoxe Tradition. Die Kirche selbst gibt widersprüchliche Signale von sich. Erst vor kurzem haben hohe Würdenträger auf einem Kongress den westlichen Menschenrechts-Begriff als "fremde Norm" bezeichnet. Antisemitismus ist unter einigen kirchlichen Würdenträgern weit verbreitet. Nach der Attacke auf die Moskauer Synagoge hat der Moskauer Patriarch Alexii II allerdings ausdrücklich dazu aufgerufen, "Extremismus und Fremdenhass" zu überwinden.
Gegen die Demonstranten, die am Samstag die Homosexuellenparade angegriffen, hat sich diese Mahnung aber wohl nicht gerichtet. Die Kirche selbst hatte die Gläubigen zum "gesetzeskonformen Protest" gegen die Parade aufgerufen. Und befand sich damit in Eintracht mit den religiösen Minderheiten im Land. Auch islamische und jüdische Geistliche hatten die Parade einhellig verurteilt.