Im Flüchtlingszug nach München
8. September 2015"Ich habe ja letzte Woche schon gesagt, dass ich mich freue, dass Deutschland auch ein Land geworden ist, mit dem viele Menschen außerhalb Deutschlands Hoffnungen verbinden. Und das ist etwas sehr Wertvolles, wenn man einen Blick in unsere Geschichte wirft." Bundeskanzlerin Angela Merkel fand klangvolle Worte, als sie am Montag bei einer Pressekonferenz Stellung zu der großen Flüchtlingsbewegung in Richtung Deutschland nahm.
Am selben Tag, an dem die Kanzlerin in Berlin vor die Presse tritt, steht der Syrer Mustapha ungläubig im Bordrestaurant des Zugs von Budapest nach München. Der Blick auf die Speisekarte lässt ihn zunächst etwas sehr viel Nüchterneres mit Deutschland verbinden als Hoffnung. "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht … neun!", zählt er an den Fingern ab. Der ehemalige Polizist aus Damaskus kann nicht glauben, dass er neun Euro für vier Streifen Hähnchen auf einem kleinen Salatbett bezahlen soll. Es ist schwer, ihm in Zeichensprache zu vermitteln, dass dies nun mal so ist in Fernzügen. Willkommen in Europa!
Ihre schmale Reisekasse zwingt Mustapha und seinen Freund Ahmed - einen Studenten aus Deir ez-Zor im Osten Syriens - zum Kauf des Kindermenüs. Inklusive einer kleinen Tüte Gummibärchen. Dazu kauft Mustapha eine Flasche Bier, die sich beide teilen. Die Gummibärchen finden großen Anklang. Enthusiastisch bietet Mustapha den Mitreisenden an, sich aus der kleinen Tüte zu bedienen.
Am Bahnhof getrennt
Während die rund siebeneinhalbstündige Zugfahrt durch die grünen Ausläufer der Alpen weitergeht, machen Syrer, Afghanen und Iraker im Bordrestaurant ähnliche Erfahrungen. Sie legen zusammen, um sich die überteuerten Speisen und Getränke leisten zu können. Andere Passagiere und zunehmend schriller werdende Bahnangestellte versuchen, ihnen die verschiedenen Menüs und Angebote zu erklären.
Im Budapester Keleti-Bahnhof hatte die ungarische Polizei die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig strikt ferngehalten von den rund 200 Flüchtlingen, die sie dort in die letzten drei Waggons leitete. "Sie sollten dort nicht hingehen, es wimmelt von Migranten", sagte einer der Wachleute. Reisende, die Sitze in den Flüchtlingswaggons reserviert hatten, wurden nach vorne in die erste Klasse transferiert.
Das Lippenbekenntnis zu erhöhter Sicherheit geht im Zug weiter. Ein ungarischer, ein österreichischer und ein deutscher Polizeibeamter steigen zu, um die Papiere der Flüchtlinge zu kontrollieren. Gewissenhaft prüfen sie die abgerissenen, mehrfach gefalteten und teilweise auf Arabisch verfassten Dokumente, die ihnen einige der Flüchtlinge entgegen halten. Doch nur eine kleine Anzahl - darunter kaum ein Kind - kann überhaupt Papiere vorweisen. Wirft man sie nun aus dem Zug? "Die Regeln wurden etwas außer Kraft gesetzt", gibt der österreichische Beamte leicht verlegen zu. Über einen schlecht gefälschten Pass einer Frau können er und seine Kollegen nur lachen. "Wie viel haben Sie dafür gezahlt?", bellt der ungarische Polizist die Frau an. Sie versteht die Frage nicht.
"München ist voll"
Kaum einer der Flüchtlinge an Bord des Zuges spricht Deutsch oder Englisch. Ali ist eine Ausnahme. Der Iraker lebt in Wien und ist nach Budapest gekommen, um seinem Cousin zu helfen. "Er hat mich angerufen: 'Ich bin seit neun Tagen in Budapest', hat er gesagt. 'Ich habe kein Geld. Ich habe kein Essen. Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen.' Darum bin ich am nächsten Tag nach Budapest gereist.", erzählt Ali, "Mein Cousin hatte drei, vier Freunde dabei. Ich habe für alle Essen gekauft. Aber ich konnte ihnen nicht viel geben, weil ich selbst gerade keine Arbeit habe."
Alis Mutter und seine Geschwister leben bereits in Wien. "Meinen Vater und meinen Bruder habe ich 2007 im Krieg verloren. Deswegen bin ich nach Europa gekommen", sagt er. Bis die gesamte Familie wieder vereint ist, muss er sich noch gedulden. Sein Cousin hat es nicht in den Zug geschafft. "Ich denke, er wird den nächsten Zug nehmen", sagt Ali. Er ist dankbar für die Spenden, die Menschen in den vergangenen Tagen zum Wiener Westbahnhof gebracht haben. "Das ist großartig. Es hilft extrem. Vielen Dank! Ich war auch dort und habe bei McDonalds Essen für drei oder vier Familien gekauft."
Es ist schon dunkel, als der Zug nach der langen Fahrt durch die Alpen und den Stopps in Wien, Linz und Salzburg schließlich in den Münchener Hauptbahnhof einläuft. Die applaudierende Menge, die Geschenke an die Ankommenden verteilt hat, ist nicht mehr da. Dafür stehen schon deutsche Polizisten in dunklen Uniformen auf dem Bahnsteig, als sich die Türen der Waggons öffnen. Der Zugang vom Gleis in die Innenstadt ist abgesperrt. Die Polizisten trennen die Flüchtlinge von den anderen Reisenden. Ein indisches Paar muss seine Reisepässe zeigen. Dann werden die Flüchtlinge in einen anderen Zug gebracht. In der bayerischen Landeshauptstadt können sie nicht bleiben. "München ist voll", erklärt einer der Beamten. Die Flüchtlinge müssen weiter. Ihre Reise ist noch lange nicht vorbei.