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Kairo geht hart gegen Influencerinnen vor

Alla Juma | Kersten Knipp
30. Juli 2020

Ein Gericht in Kairo hat junge Bloggerinnen zu Haftstrafen verurteilt. Vorgeworfen wird ihnen kein politisches Vergehen, sondern zuviel Freizügigkeit. Gegen das Urteil regt sich Protest.

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Bildkombo: Fotos der der ägyptischen Influencerinnen Hanin Hossam (Haneen Hossam/l.) und Mauada al-Adham (Mowada al-Adham/r.) auf Displays von Mobiltelefonen
Die Influencerinnen Hanin Hossam und Mauada al-Adham Bild: AFP/K. Desouki

Zwei Jahre Haft, dazu eine Geldstrafe von jeweils umgerechnet knapp 16.000 Euro: So lautete das Urteil, das ein Kairoer Gericht am Montag (27.7.) über zwei junge ägyptische Influencerinnen verhängte. Drei weitere junge Frauen wurden ebenfalls zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das Urteil kann angefochten werden. Am Mittwoch verurteilte die ägyptische Justiz eine weitere junge Frau aus ähnlichen Gründen zu drei Jahren Haft und ebenfalls zu einer Geldstrafe.

Die Richter warfen den Angeklagten im Prozess am Montag vor, sie hätten "unzüchtige" Tanz-Videos gepostet und so "die Werte und Prinzipien der ägyptischen Familie vergewaltigt". Außerdem hätten sie zur "Unzucht" angestiftet und Menschenhandel gefördert, so der zuständige Staatsanwalt.

Namentlich bezog sich er sich auf zwei Verurteilte: die 20-jährige Hanin Hossam (in englischer Schreibweise auch: Haneen Hossam) und die zwei Jahre ältere Mauada al-Adham (englisch: Mawada Eladhm).

Sowohl Hossam als auch al-Adham sind vor allem auf Tiktok bekannt geworden, einem unter jungen Menschen sehr beliebten, von einem chinesischen Anbieter betriebenen Portal für kurze Handyvideos. Dort hatten beide mit ihren meist nur wenige Sekunden langen Videostreifen über eine Million Anhänger gewonnen. In den Videos sieht man, wie die Frauen in oder vor Sportwagen posieren, in ihrer Küche tanzen und harmlose Scherze treiben. In vielen Videos zeigen sich die beiden Frauen - für ägyptische Verhältnisse - relativ markant geschminkt, mit rotem Lippenstift. Sie tragen teils engere Kleidung, ihre Posen vor der Kamera sind körperbetont. Auf Twitter-Fotos präsentieren sich beide etwas zurückhaltender.

Während Hossam durchgehend Kopftuch trägt, zeigt sich al-Adham mit offenem Haar. 

In ihren Videos tanzen sie auf eine Art, wie es junge Menschen - zumindest vor Corona - in den Clubs westlicher Länder und durchaus auch in abgeschirmten Elite-Discos ägyptischer Metropolen regelmäßig getan haben: voller Lebenslust und Freude an der Musik. Doch in überwiegend konservativen Gesellschaften wie der ägyptischen stoßen solche Auftritte bei vielen auf Ablehnung.

Ein Mädchen, das in einem Rollstuhl sitzt, schaut auf ein von anderen Frauen gehaltenes Transparent mit der Aufschrift: "rape - Time to Stop"; Ägypten, Protest gegen sexuelle Belästigung
Der Kampf um Frauenrechte hat in Ägypten Tradition: Protestszene aus Kairo, 2014Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Nabil

"Anreiz zu Ausschweifung und Immoralität"

In Ägypten können Bürger auch unter so unpräzisen Anklagen wie "Missbrauch sozialer Medien" oder "Anreiz zu Ausschweifung und Immoralität" verurteilt werden. Dabei sei es den beiden Frauen um etwas ganz anderes gegangen, heißt es seitens des Anwaltsteams von al-Adham. "Sie wollten nur Follower gewinnen. Ihnen war nicht bewusst, wie ihre Botschaften bei der Staatsanwaltschaft ankämen", so Samar Shabana, Mitglied des Anwaltsteams, gegenüber internationalen Nachrichtenagenturen. Dennoch wirft man ihnen Förderung der Prostitution vor. Der Grund: Sie hatten auf einer anderen Plattform ihre Anhängerinnen ermutigt, ihre Videos auf der Plattform "Likee" zu veröffentlichen, die den Autoren solcher Videos einen an der Höhe der Klickzahlen ausgerichteten Betrag auszahlt.

An dem Urteil sei formal zwar nichts auszusetzen, sagt die prominente ägyptische Frauenrechtlerin Nihad Abu Qumsan, Leiterin des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte, im DW-Interview. Es sei auf Grundlage des Artikels 2 des seit 2018 geltenden verschärften Kommunikationsgesetzes gefällt worden. Dieser ermögliche Anklage gegen alle, die angebliche gesellschaftliche oder familiäre Werte verletzten. Allerdings kritisiert Abu Qumsan den Gesetzesartikel selbst: "Er ist falsch, irrig und gehört abgeschafft."

"Empörender Angriff auf Freiheitsrechte"

Schärfer äußert sich Vanessa Ullrich, Menschenrechtsexpertin für die Nah-/Mittelost-Region bei Amnesty International in Deutschland, im DW-Gespräch: "Die Festnahme und strafrechtliche Verfolgung ägyptischer Bloggerinnen, nur weil sie Videos von sich selbst beim Tanzen oder Singen gepostet haben, ist ein empörender Angriff auf die Freiheitsrechte. Das Urteil zeigt, wie die ägyptischen Behörden erfundene und vage Anklagen, wie die 'Verletzung von Familienwerten' und 'Anstachelung zu Ausschweifungen' gegen weibliche Influencerinnen einsetzen, um Online-Plattformen zu kontrollieren und patriarchale Sozial- und Rechtssysteme zu stärken." 

"Aufgrund ihrer sozialen Klasse verurteilt"

Derweil erhebt sich gegen das Urteil auch im Netz Protest. So existiert seit einigen Tagen auf der Petitionsplattform change.org ein Aufruf in arabischer und englischer Sprache, der sich für die Frauen einsetzt. Die Initiatorinnen weisen unter anderem darauf hin, dass einige der verurteilten Frauen der ökonomischen Unterschicht entstammten. "Sie werden aufgrund ihrer Klasse verurteilt. Ihnen wird das Recht vorenthalten, über ihren Körper zu verfügen, sich frei zu kleiden und sich frei auszudrücken", heißt es in der Petition.

Frauen verschiedenen Alters demonstrieren, zum Teil gegenseitig mit den Armen untergehakt, in der ägyptischen Stadt Kairo für Frauenrechte, Ägypten
Entschlossen: Demonstrantinnen am Internationalen Frauentag 2017 in KairoBild: picture-alliance/ZUMAPRESS/A. Sayed

Der Grund für das Vorgehen gegen ärmere Bürger liegt auf der Hand: Sie haben kaum Mittel, sich zu wehren. Zudem erinnert der Vorgang an den Fall der 17 Jahre alten Ägypterin Menna Abdel-Aziz. Sie hatte im Frühjahr Anzeige gegen einen ihrer Bekannten erstattet. Dieser habe sie vergewaltigt, so Abdel-Aziz. Daraufhin war Abdel Aziz ihrerseits angezeigt worden. Die Anzeige beruhte auf ihren Auftritten in sozialen Medien. Auch sie hatte dort Fotos in figurbetonten Posen von sich veröffentlicht, auch sie hatte sich dort beim Tanzen gezeigt. Und auch sie sah sich daraufhin mit einer Anklage wegen "Anstiftung zur Ausschweifung und Verletzung ägyptischer Familienwerte" konfrontiert. Dabei hatten sich gerade erst in den vergangenen Wochen und Monaten Ägypterinnen in sozialen Medien durchaus erfolgreich gegen Missbrauch und Vergewaltigung zur Wehr gesetzt.

Welche "Familienwerte" sind gemeint?

Das Gesetz, auf dessen Grundlagen die Influencerinnen verurteilt wurden, lade zur Diffamierung ein, warnt die Petition auf change.org. Wolle man wirklich eine Person anzeigen, nur weil man mit deren Online-Auftritt nicht zufrieden sei, fragen die Initiatorinnen. "Wenn Tiktok-Frauen für ihre Inhalte bestraft werden, die 'die ägyptischen Familienwerte verletzen', könnten wir dann wenigstens wissen, welche Werte das eigentlich sind?", fragen sie weiter. "Welche Familie meinen wir? Würden sich diese Werte unterscheiden, je nachdem, ob eine Familie reich oder arm ist? Ob sie in der ägyptischen Gesellschaft bekannt oder nicht bekannt ist? Ob die beschuldigte Person ein Mann oder eine Frau ist?"

Vanessa Ullrich von Amnesty International kritisiert die juristischen Vorgaben als ein weiteres Instrument, gegen missliebige Bürger vorzugehen: Bislang hätten sich die ägyptischen Behörden auf Anklagen wie 'Terrorismus' und 'Verbreitung falscher Nachrichten' gestützt, um Journalisten, Menschenrechtler oder politische Aktivisten unter Druck zu setzen. Ullrich: "Nun greifen sie auf Anklagen im Zusammenhang mit 'Ausschweifungen' zurück, um den digitalen Raum durch repressive und genderspezifische Taktiken vollständig zu kontrollieren."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika