Deutschlands "Geheimwaffe" im Bobsport
3. Februar 2022Hans-Peter Hannighofer setzt seinen Helm auf, klappt sein Visier herunter und setzt sich in einen Bob, bereit, die Olympiastrecke in Peking in Angriff zu nehmen. Doch Hannighofer ist gar nicht in der Nähe der chinesischen Hauptstadt. Und die Bahn, die er vor sich hat, ist auch nicht aus Eis, sondern lediglich eine Projektion auf einer 270-Grad-Kinoleinwand.
Seit 18 Monaten plant das deutsche Bobteam in einem unscheinbaren Bürogebäude im Norden Münchens seinen Angriff auf die olympischen Medaillen. Gemeinsam mit dem Automobilhersteller BMW wurde ein Simulator entwickelt, so wie er auch im Motorsport - zum Beispiel in der Formel 1 - verwendet wird. Der Hintergedanke: der Konkurrenz einen Schritt voraus sein.
Hoher Grad an Realismus
"Der Simulator ist schon sehr realistisch", sagt Hannighofer bei einer Vorführung der Anlage im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking gegenüber der DW. "Ich hätte es mir wirklich nicht so vorgestellt, wie es im Endeffekt ist. Vor allem die Visualität ist sehr gut. Es fühlt sich schon sehr nach Bobfahren an."
Der hohe Grad an Realismus wird erreicht, indem der Bob auf eine bewegliche Plattform montiert wird, die normalerweise für Rennwagen reserviert ist. Ein Motor, der mit der Plattform verbunden ist, ahmt die Stöße und Kollisionen nach, die ein Bobpilot auch im echten Eiskanal erlebt. Gesteuert wird der Bob wie gewohnt über Seilzüge, wobei ein weiterer Motor an der Vorderseite das Drehmoment in den Kurven erzeugt.
Riesenvorteil gegenüber der Konkurrenz
Da sie für die Olympischen Spiele neu gebaut wurde, ist die Bahn in Peking den Piloten weitgehend unbekannt. Hinzu kommt, dass die Trainingsmöglichkeiten für Athleten außerhalb Chinas aufgrund der Corona-Pandemie stark eingeschränkt sind. Die Vorteile für die deutsche Mannschaft, die seit langem an Erfolge im Bobsport gewöhnt ist, liegen daher auf der Hand.
"Es hilft uns ungemein", sagte Richard Oelsner, Ersatzpilot des deutschen Teams. "Hier können wir nacharbeiten, nachjustieren und weiter ein Gefühl für die Bahn entwickeln. Ohne das wäre es definitiv schwieriger, alles richtig zu machen."
Hannighofer, der verletzungsbedingt einen Startplatz bei Olympia verpasst hat, schließt sich dieser Meinung an: "Wenn man hier schon die ersten Kenntnisse über die Bahn sammeln kann, ist das ein Riesenvorteil", sagt der 24-Jährige. "Dann ist man in der Realität an der Bahn schon einen Schritt weiter."
Wie im Computerspiel
In einem separaten Kontrollraum voller Bildschirme, auf denen Telemetriedaten und ein computergeneriertes Bild des Bobs angezeigt werden, beobachtet Julian von Schleinitz, wie Hannighofer und Oelsner virtuell die Bahn hinunterfahren. Von Schleinitz, 2009 Juniorenweltmeister im Rodeln, ist der Kopf hinter dem Projekt. Seine eigenen Erfahrungen im Eiskanal hätten ihn auf die Idee gebracht, einen Bobsimulator zu entwickeln, sagt der 30-Jährige.
"Ich fand es immer schon cool, Computerspiele zu sehen, wie im Motorsport, wo man Dinge einfach in einer Simulation ausprobieren kann. Und wenn man dann richtig gut ist, geht man auf die echte Strecke in der realen Welt. Das wollte ich schon immer mal haben."
Ursprünglich basierte der Simulator auf den Daten der Strecke am Königssee in Bayern. Als jedoch mehr Informationen über die Eisbahn in Peking vorlagen, wurde die Software aktualisiert.
Vollständiges Bild dank Simulation
Die generierte Datenmenge ermöglicht es den Piloten nicht nur, sich an den Kurs in Peking zu gewöhnen, sondern auch zu analysieren, wie und wo auf der Strecke sie ihre Leistung noch verbessern können.
"Wir sehen, was mit dem Bob passiert - ob er rutscht oder ob er geradeaus gleitet", erläutert von Schleinitz. "Wir sehen auch, was der Sportler macht, was für uns sehr wichtig ist. Wir sehen seine Lenkbewegungen und alle Fahrlinien in drei Dimensionen. Wir haben also wirklich ein vollständiges Bild davon, was in der Simulation vor sich geht."
Das Wissen der Piloten aus erster Hand kann wiederum in die Software einfließen, um den Realismus des Simulators zu verbessern. So wurden unter anderem der Bob weniger empfindlich gemacht, wenn er den Rand der Bahn berührt.
Eine Strecke wie keine andere
Richard Oelsner war einer der Piloten, die den Olympia-Eiskanal im vergangenen Oktober bei einer Testveranstaltung schon kennenlernen konnten. Die olympische Bahn weise "sehr einzigartige" Merkmale auf, die man wirklich erleben müsse, um sie zu verstehen. sagt Oelsner: "Die Bahn ist besonders lang. Sie hat ein paar besondere Passagen und Kombinationen, die man sonst nirgendwo auf der Welt findet. Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen schnell und langsam, zwischen gewinnen und alles verlieren."
"Es gibt praktisch keinen Spielraum für Fehler", bestätigt Johannes Lochner der DW während des Weltcups in Winterberg: "Man muss die Kurven im oberen Teil der Strecke bis auf wenige Zentimeter genau treffen. Wenn man da einen Fehler macht, ist die ganze Geschwindigkeit weg, und man verliert viel Zeit bis zum Ziel."
Lochner, der zum zweiten Mal an Olympischen Spielen teilnimmt, bereitet sich ebenfalls im Simulator vor: "Wir haben viele Fahrten simuliert, was uns schon mal eine gute Vorstellung von der Bahn gibt." Trotzdem müsse man sich vor Ort nochmal ein genaues Bild von dem Eiskanal machen.
Die guten Möglichkeiten nutzen
2018 in Pyeongchang gingen alle drei Goldmedaillen im Bobsport nach Deutschland - eine davon teilte man sich mit Kanada. Verschafft man sich mit dem Simulator einen unfairen Vorteil gegenüber der Konkurrenz? Nein, antwortet Richard Oelsner: "Wenn man gute Möglichkeiten hat, warum soll man sie nicht nutzen?"
Schließlich habe auch das chinesische Bobteam einen Vorteil gegenüber den Athletinnen und Athleten anderer Nationen. "Die Chinesen haben schon eine drei- oder vierstellige Anzahl von Fahrten machen können, bevor überhaupt eine andere Nation da war", sagt Oelsner. "Wir probieren so gut es geht, dagegen zu halten und dann alles zu tun, um am Ende im besten Fall die Goldmedaille in der Hand zu haben."
Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.