In der Blase: Tel Aviv nach dem Terror
16. April 2022Tel Aviv wirkt in diesen Tagen ungewöhnlich ruhig. Selbst Restaurants, vor denen sich sonst eine Warteschlange bildet, haben zur besten Mittags- oder Abendzeit noch Plätze frei. Vielleicht liegt es an den Pessachferien, vielleicht ist die Erinnerung an den Terroranschlag auf eine Bar im Zentrum von Tel Aviv vor gut einer Woche auch noch zu frisch.
Es war ein Donnerstag, Beginn des Wochenendes in Israel, als wir das Schrillen der Sirenen von Krankenwagen und Polizei hörten. Keine 600 Meter von unserer Wohnung entfernt hatte ein palästinensischer Terrorist auf die Gäste einer Bar geschossen. Drei Menschen starben, sieben weitere wurden verletzt, zum Teil schwer. Es war der vierte Terroranschlag in Israel innerhalb von nur zwei Wochen.
Kurz nach den ersten Nachrichtenmeldungen begann mein Handy im Sekundentakt zu piepen: "Seid ihr safe?", fragte ein Vater in der WhatsApp-Gruppe unseres Kindergartens die anderen Familien. "Schließt die Türen ab. Der Täter ist noch nicht gefasst." Ding, ding, ding machte mein Handy. Alle reagieren in so einer Situation schnell. Die Freunde von Tomer Morad und Eytam Magini - 27 und 28 Jahre alt - ahnten darum bald, dass die beiden zu den Todesopfern gehörten: Sie antworteten nicht.
Eine eingeschworene Gemeinschaft
Wenn Israel angegriffen wird - sei es durch einen Terroranschlag oder durch Raketen aus Gaza -, herrscht eine seltsame Vertrautheit in der sonst häufig anonymen Großstadt Tel Aviv. Ob man die Nachbarin um zwei Uhr nachts im Bunker im Schlafanzug trifft oder einen Fremden auf der Straße am Morgen nach einem Anschlag - der Blick sagt: Ich weiß, wie es dir geht.
Die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, in Israel bei einem Terroranschlag oder durch Raketen aus Gaza verwundet oder gar getötet zu werden, ist wesentlich geringer als die, einen schweren Autounfall zu haben. Im Gegensatz zum Krieg in der Ukraine lebt es sich in Israel derzeit "ganz normal". Aber was heißt das eigentlich?
Schließlich wirkt Terror psychologisch. Man zuckt bei Sirenen plötzlich zusammen, schaut sich um, wenn gleich mehrere Krankenwagen an einem vorbeirasen. "Was wäre, wenn ich mich an dem Abend aufgerafft hätte, joggen zu gehen?", fragte ich mich in den Tagen nach dem Anschlag. Ich wäre vermutlich direkt am Tatort vorbeigelaufen. Vielleicht hätte ich das dritte Todesopfer Barak Lufan aus dem Augenwinkel gesehen: Ein 35-jähriger Israeli, dessen Frau nun die kleinen Kinder allein großziehen muss.
Zwanzig Jahre nach Baubeginn der Sperranlage
Tel Aviv wird immer wieder als Blase bezeichnet, in der Lebenskünstler Kaffee trinken, während weniger als eine Autostunde entfernt in Qalqiliya, Tulkarem und anderen Städten Palästinenser unter israelischer Besatzung leben - hinter einer Mauer, die nach israelischen Angaben gebaut wurde, um Terroranschläge zu verhindern. Der Bau der Sperranlage begann vor ziemlich genau zwanzig Jahren während der Zweiten Intifada.
Nach dem Anschlag vor gut einer Woche von Tel Aviv begann die israelische Armee mit mehreren Militäreinsätzen in Dschenin und anderen Orten des besetzten Westjordanlandes. Zehn Palästinenser wurden inzwischen getötet, darunter militante Kämpfer - aber auch der 14-jährige Qusai Fuad Hamamra. Er soll nach Angaben der israelischen Armee einen Molotowcocktail geworfen haben. Es gibt aber auch Agenturberichte, dass er gänzlich unbeteiligt gewesen sei. Eine 40-jährige Frau wurde erschossen, nachdem sie sich Soldaten "verdächtig genähert" habe, so die israelische Armee. Nach palästinensischen Angaben handelte es sich um eine Witwe und Mutter von sechs Kindern, die sehbehindert war.
Die Situation im Moment ist mit der vor zwanzig Jahren noch nicht vergleichbar. Doch die Erinnerungen, die Traumata kommen wieder hoch. Bei Israelis und Palästinensern. Es heißt, die Zweite Intifada habe die Empathie für die Opfer der jeweils anderen Seite stark reduziert. Viele können sich nicht in die Situation der Zivilisten der anderen Seite hineinversetzen - bis heute.
Die Sperranlage hat in den vergangenen zwanzig Jahren menschliche Kontakte erschwert. Die meisten jüdischen Bewohner von Tel Aviv haben - außerhalb ihrer Armeezeit - noch nie eine palästinensische Familie getroffen. Palästinenser sind teils illegal durch Löcher in der Sperranlage zur Arbeit nach Israel gekommen - nun werden auch diese Lücken geschlossen. Zwei Attentäter der vergangenen Wochen waren durch diese Löcher im Zaun nach Israel gelangt.
Kaum Empathie für die andere Seite
Es stimmt, Tel Aviv ist eine Blase. Meistens kann man in dieser Stadt voller toller Restaurants mit Sonne am Mittelmeer gut ausblenden, was in den besetzten Gebieten passiert. Dass ein Stadtviertel - wie vor einer Woche - abgesperrt wird und Antiterroreinheiten das Treppenhaus hochstürmen, passiert in Tel Aviv so gut wie nie. Und dann sind es die eigenen Soldaten, die kommen, um einen zu beschützen. Viele palästinensische Familien haben hingegen schon öfter erlebt, dass mitten in der Nacht israelische Soldaten mit vorgehaltenem M16-Gewehr ihre Wohnung stürmen.
Viele Israelis glauben nicht, dass es irgendwann noch einmal Frieden mit den Palästinensern geben könnte. Eine Freundin hat es sich zur Aufgabe gemacht, immer mehr Pässe für ihre Familie zu besorgen. Mittlerweile hat sie als sephardische Jüdin, die in London geboren ist, nicht nur einen israelischen und britischen, sondern auch einen spanischen und portugiesischen Pass für sich und ihre Kinder organisiert. "Man weiß nie, wie die Zukunft aussieht."
Nur die Allerwenigsten kämpfen wie die Autorin und Psychotherapeutin Ayelet Gundar-Goshen aktiv für ein Ende der Besatzung und einen Frieden mit den Palästinensern. Sie sagte mir in einem Interview nach dem jüngsten Gazakrieg, ihr bliebe doch gar nichts anderes übrig, als sich politisch zu engagieren. Schließlich mache der Gedanke sie krank, dass ihre Söhne als Soldaten der israelischen Besatzungsarmee ihre Waffe auf Palästinenser richteten. Sie wolle, dass ihre Kinder weder Opfer noch Täter würden.
Es sind gerade diese Zeiten, die einem bewusst machen, wie sehr Tel Aviv wirklich eine Blase ist. Ein Blase, die erst dann - und auch nur für kurze Zeit - wieder platzen wird, wenn das nächste Mal die Sirenen ertönen. Dschenin und Nablus - weniger als 100 Kilometer entfernt - scheinen für die meisten in dieser Stadt sehr weit weg.