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In Estland ein Niemand

21. Mai 2009

In Estland ist die Lage der russischen Minderheit im Land problematisch. 30 Prozent der Bevölkerung sind Russischstämmige, die entweder die estnische, die russische oder gar keine Staatsbürgerschaft haben.

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Mann mit grauem Pass (Foto: picture alliance)
Grauer Pass: Die russischsprachige Minderheit in Estland bekam den Status von Nicht-Staatsangehörigen mit eingeschränkten RechtenBild: picture-alliance / ZB

26. April 2007: 2000 Menschen protestieren in Estlands Hauptstadt Tallinn vor einem sowjetischen Kriegerdenkmal. Die jungen russischstämmigen Demonstranten wollen nicht hinnehmen, dass die estnischen Behörden das Denkmal aus dem Stadtzentrum entfernen und auf einem Soldatenfriedhof wieder aufbauen lassen wollen. An diesem und dem folgenden Abend kommt es zu blutigen Straßenschlachten mit der Polizei. Ein junger Mann stirbt, 70 Menschen werden verletzt und 1000 verhaftet.

Streit um ein Denkmal als Symptom

Polizei geht in Tallinn gegen Demonstranten vor (Archivfoto: AP)
Die Polizei setzte bei der Demonstration vor dem Kriegerdenkmal in Tallinn Knüppel und Tränengas einBild: AP

"April-Nacht" nennen die Esten jene Tage, die zu einer Art nationalem Trauma für das kleine Land mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern geworden sind. Denn der Denkmalstreit habe den Menschen vor Augen geführt, dass eine über Jahre atemberaubende wirtschaftliche Entwicklung viele blind gemacht habe für andere Probleme in Estland, sagt der Soziologe Alexej Semjonov.

Der Direktor des Informationszentrums für Menschenrechte in Tallinn ist selbst in Russland geboren und kennt viele der Menschen persönlich, die 2007 protestiert haben. Das Denkmal habe ja niemanden gestört, auch die Esten nicht, meint er. Es sei auch gar kein sowjetisches Denkmal gewesen, sondern habe an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs erinnert, das betreffe alle, auch die Esten. "Das Ganze war am Ende eine Provokation nationalistischer Kräfte", so der Soziologe.

Estnische Staatbürgerschaft nur für die Hälfte

Flagge von Estland
Estland wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 unabhängig

Knapp 30 Prozent der estnischen Bevölkerung sind russischstämmig, die Hälfte davon hat die estnische Staatsbürgerschaft. Wer Este werden will, muss in der Regel einen schriftlichen und mündlichen Sprachtest bestehen, zudem eine Prüfung in Staatsbürgerkunde. Doch immer weniger Menschen stellen einen entsprechenden Antrag.

Andere würden gerne Staatsbürger werden, dürfen es aber nicht – so wie Alexander Poluzhalov, der aus der Schwarzmeer-Region stammt. Er lebt schon seit 1972 in Tallinn und arbeitete dort früher für das sowjetische Sicherheitsministerium. Die estnischen Behörden verweigerten ihm die Staatsbürgerschaft, weil er als ehemaliger Mitarbeiter eines sowjetischen Ministeriums angeblich eine Sicherheitsgefahr darstelle, erzählt Poluzhalov. Er habe vor 15 Jahren in Estland eine eigene Firma gegründet und zahle im Jahr 50.000 Euro Steuern an den estnischen Staat. Dennoch sei er sei zwar der Besitzer der Firma, leite sie aber nicht offiziell, weil er kein estnischer Bürger sei. Dabei lebe er hier seit fast 40 Jahren, das sei doch absurd. "Ich bin in Estland ein Niemand!", meint Poluzhalov.

Beziehungen verschlechtern sich seit 2007

Zwar gebe es im alltäglichen Zusammenleben eigentlich keine Probleme. Doch der Streit um das Kriegerdenkmal habe die estnische Gesellschaft verändert, sagt Alexander Semjonov vom Informationszentrum für Menschenrechte. Es gebe weniger Kontakte zwischen Russen und Esten als früher, meint er. Es habe nie so etwas wie eine Feindschaft gegeben, das Verhältnis sei gut gewesen. "Aber nach 2007 gab es eine Entfremdung, das spüren wir deutlich", schätzt Semjonov ein.

Das hat auch das Ministerium für Minderheitenfragen erkannt und 2008 ein neues Integrationsprogramm gestartet. Das erklärte Ziel: Bis zum Jahr 2013 soll vor allem die Sprachförderung in Schulen ausgebaut werden, um so Esten und Russischstämmige näher zusammen zu bringen.

Autor: Christoph Kersting
Redaktion: Mareike Röwekamp