In Hitlers "Hauptstadt der Bewegung" blüht jüdisches Leben
19. September 2023Die Straßen im Münchner Stadtteil Maxvorstadt erinnern an dunkle deutsche Geschichte. Über die Brienner Straße etwa zogen in den 1930er Jahren die Nationalsozialisten zum Königsplatz, vorbei am sogenannten "Braunen Haus", der Reichsparteizentrale von Adolf Hitlers NSDAP.
München war früh "Hauptstadt der Bewegung" – hier stieg Hitler mit der nationalsozialistischen Bewegung bis 1933 auf. Bis zum Ende von Nazi-Deutschland behielt die Stadt hohe Bedeutung für die Hitler-Partei. Bis heute erkennt man an der Architektur die dunkle Geschichte der bayerischen Landeshauptstadt. Und an der einstigen Stelle des "Braunen Hauses" steht seit gut acht Jahren das "NS-Dokumentationszentrum München".
"Wirklich extrem"
In dieser Nachbarschaft liegt künftig der Hauptsitz der "Konferenz der europäischen Rabbiner" (CER). "Historisch gesehen ist München wirklich extrem", sagt der Präsident der orthodoxen Vereinigung, Rabbi Pinchas Goldschmidt, der Deutschen Welle. "Hier begann die Zerstörung des Judentums in Europa. Hier wurde die Kristallnacht, die Reichspogromnacht geplant." Aber nun schließe sich geradezu ein historischer Kreis. "Die Konferenz der Europäischen Rabbiner, die seit 1956 den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden nach dem Holocaust unterstützen wollte, kommt in dieses Land. Und in München, in Bayern, in Deutschland sehen wir: Jüdische Gemeinden wurden wiederaufgebaut und blühen."
Seit ihrer Gründung 1956 hatte die Rabbiner-Konferenz ihren Sitz in London. "Das Zentrum Europas hat sich verschoben", sagt Goldschmidt. Heute werde Europa von den beiden größten Ländern, von Frankreich und Deutschland, geführt. "Deutschland ist das Land in Europa, in dem die jüdische Gemeinde wächst. Und wir wurden von der bayerischen Staatsregierung ermutigt und eingeladen, nach München zu kommen."
Die Entscheidung für München hat eine Vorgeschichte, die Ende Mai 2022 begann. Damals kamen etwa 500 CER-Rabbiner aus mehr als 40 Ländern erstmals zu ihrer Generalversammlung nach München. Ministerpräsident Söder kam zu dem Rabbiner-Treffen in einem von Polizisten sorgsam bewachten Hotel mit Kippa auf dem Kopf und einem kräftigen "Schalom" auf den Lippen. Unsicherheit und Rührung waren ihm anzumerken - aber auch Dankbarkeit und Freude über diese Zusammenkunft, zu der so viele Rabbiner wie nie zuvor nach der Schoah nach Deutschland gekommen waren.
Söder blieb lange an diesem Abend. Er lud die Gäste ausdrücklich ein, in Zukunft doch immer ihre Gesamttreffen - die bislang im Abstand von zwei bis drei Jahren durch europäische Städte touren - in München anzuberaumen. "Wer jüdisches Leben und Freiheit bedroht, muss mit unserem konsequenten Widerstand rechnen - null Toleranz für Intoleranz", sagte der CSU-Politiker seitdem einige Male. Unter einigen Rabbinern kursierte da schon eine Weile der Gedanke, den Hauptsitz in die bayerische Landeshauptstadt zu verlegen. Es folgten einige Gespräche. Und jetzt zieht die Rabbinerkonferenz von London nach München. Er persönlich, so Rabbiner Goldschmidt, spüre in München Offenheit und Aufgeschlossenheit für jüdisches Leben.
Die Entscheidung für München fällt in einer Zeit, in der das jüdische Leben in Deutschland trotz vieler antisemitischer Zwischenfälle öffentlich präsenter und erkennbar vielfältiger wird. Mittlerweile werden in Deutschland liberale, konservative und orthodoxe Rabbiner ausgebildet und ordiniert, die in zahlreichen europäischen Ländern ihren Dienst antreten. In mehreren Städten gibt es spektakuläre Bauvorhaben.
Präsenz jüdischen Lebens
In Berlin wurde Ende Juni der für 40 Millionen Euro errichtete "Jüdische Campus" der Chabad-Gemeinschaft eröffnet, ein sieben Stockwerke hoher, moderner Bau. In Frankfurt am Main schreitet unweit des Messegeländes der Bau der "Jüdischen Akademie" voran, der Anfang 2025 eröffnet werden soll. Und Köln am Rhein, wo archäologisch erstmals jüdisches Leben im heutigen Deutschland - vor gut 1700 Jahren – dokumentiert ist, wartet seit Jahren auf die Fertigstellung des Jüdischen Museums in der Altstadt. Eine Reihe weiterer Bauprojekte steht an, so die Wiedererrichtung der im Krieg weitgehend zerstörten Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg.
Die Europäische Rabbiner-Konferenz mit ihrem geplanten "Zentrum für jüdisches Leben", das europaweit ausstrahlen soll, zählt künftig dazu. "Wir wollen ein integraler Bestandteil der Münchner Landschaft werden", sagt Rabbi Goldschmidt. München werde zu "einem der europäischen Zentren für jüdisches Leben werden". Der Geschäftsführer der Konferenz, Gady Gronich, lebt schon seit einiger Zeit in München.
Ein Akzent des Zentrums soll bei Bildungsangeboten für die Ehefrauen von Rabbinern liegen, den Rebbetzin. Bereits im September 2022 hatte die CER ein Programm gestartet, das gezielt die Ehefrauen von Rabbinern und deren Beitrag für die Gemeinden in den Blick nimmt und sie für Leitung und Kommunikation qualifizieren will. Man denkt auch über die bislang fehlende Bezahlung der Frauen nach.
Ein Flugblatt und der Antisemitismus
Allerdings: Die offizielle Eröffnung des Zentrums, zu der Rabbiner aus verschiedenen Teilen Europas erwartet werden, fällt inmitten des bayerischen Landtagswahlkampfes am 8. Oktober in eine Zeit heftiger politischer Kontroversen. Denn seit dem Bekanntwerden eines als menschenverachtend und antisemitisch bewerteten Flugblatts, das vor 35 Jahren im Umfeld des heutigen bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger entstand, gibt es Debatten um dessen Aufrichtigkeit. Aus der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gab es scharfe Kritik an Aiwangers Umgang mit seiner Vergangenheit.
Es wirkt nicht so, als ob der Eröffnungstermin des CER-Hauptquartiers gefährdet wäre. Doch eins fällt nun auf: Seit vielen Wochen ist als offizieller Gast zur Pressekonferenz und zur festlichen Eröffnung der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Minister Florian Herrmann (CSU), angekündigt. Nun kommt wohl auch der bayerische Kultusminister Michael Piazolo. Er gehört den "Freien Wählern" an, der gleichen Partei wie Hubert Aiwanger.