Startups als EU-Retter
12. März 2014Wann immer Neelie Kroes öffentlich über das Internet und Digital-Startups spricht, kommt sie ins Schwärmen wie ein frischverliebter Teenager. Temperamentvoll redet die Vizepräsidentin der EU-Kommission dann mit aufgekratzter Stimme von einmaligen Zukunftschancen, einem nachhaltigen Jobmotor und einer jungen Branche, die den alten Kontinent Europa im internationalen Wettbewerb entscheidend voranbringen kann. Europa brauche erfolgreiche Unternehmensgründungen und globale Internet-Unternehmen, "um wieder zu einem Wachstumszentrum in der Welt zu werden“, beschwor Kroes Politiker und Wirtschaftsbosse beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos
Wachstumszahlen geben Hoffnung
Nun sollte die 71-Jährige schon wegen ihres Amtes die europäische Internetwirtschaft mit Begeisterung bewerben. Schließlich ist die holländische Politikerin für die Digitale Agenda der EU und damit für Förderung, Weiterentwicklung und Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie den Telekommunikationsbereich zuständig. Aber was Kroes in der letzten Zeit zusätzlich beflügelt, sind neue Untersuchungen, die das Potenzial der europäischen Digital-Wirtschaft mit Zahlen untermauern. Vor allem eine von der EU-Kommission beauftragte Studie zum App-Boom hellt die Stimmung in Brüssel auf.
Demnach sind Europas App-Entwickler, von denen viele in Startups sitzen, in der Lage, eine weltweite Führungsrolle zu übernehmen. Wie es in der Mitte Februar veröffentlichten Studie heißt, ist die Entwicklung der Miniatur-Programme für Smartphones und Tablet-Computer der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig Europas. Der App-Sektor habe sich in weniger als fünf Jahren praktisch aus dem Stand zum digitalen Schwergewicht gemausert. Seit 2009 wurden demnach fast zwei Millionen Jobs geschaffen. Bis 2018 könne die Branche fast fünf Millionen Menschen beschäftigen und 63 Milliarden Euro Umsatz erzielen, prognostiziert der Bericht.
Spitze in der App-Entwicklung
"In diesem Bereich ist Europa wirklich führend", sagte Kroes voller Stolz bei der Vorstellung der Studie. EU-Entwickler von Verbraucher-Apps seien für "43 Prozent des globalen Umsatzes verantwortlich". Vor allem die jüngere internetaffine Generation, die oft keine Jobs, aber Ideen hat und als verlorene Generation Europas gilt, könnte von neugeschaffenen Arbeitsplätzen in der Digital-Wirtschaft profitieren. Es wäre ein heilendes Pflaster auf die von der Eurokrise geschlagenen Wunden. Aus Sicht der EU kommt die positive Nachricht kurz vor der Europawahl sicherlich genau zum richtigen Zeitpunkt. Doch die App-Studie deckte ebenfalls auf, welche Hausaufgaben noch zu machen sind. Fast 40 Prozent der befragten Entwickler können nämlich im Wettbewerb mit den in den USA angebotenen Gehältern kaum Schritt halten. Weitere Probleme machen die mangelnde Ausbildung und das fehlende Wirtschaftswissen. Zudem sind nur neun Prozent der Beschäftigten in der App-Branche weiblich.
EU-Kommissarin Kroes räumte den Nachholbedarf offen ein: "Die Apps mögen europäisch sein, aber die großen Plattformen sind es nicht. Die Riesen sind US-Unternehmen wie Apple, Google, Facebook." Mit anderen Worten: Europa schöpft sein Innovations-Potenzial im Web-Bereich marktwirtschaftlich nicht aus. "Es ist einiges verschlafen worden", urteilt Tobias Kollmann, Professor für E-Business und Entrepreneurshop an der Universität Duisburg-Essen. Jetzt gelte es, die Weichen zu stellen, "damit wir in drei bis fünf Jahren deutlich besser im digitalen Wettbewerb aufgestellt sind", sagte Kollmann im DW-Interview. Die fünf größten Unternehmen seien US-amerikanisch und hätten eine größere Marktkapitalisierung als alle 30 deutschen Dax-Unternehmen zusammengenommen. "Wenn wir da herankommen wollen, wird das nicht von heute auf morgen gehen, sondern wir werden in den kommenden Jahren hart arbeiten müssen."
Europaweite Zusammenarbeit von Start-Ups
Um den scheinbar übermächtigen Superstars aus dem kalifornischen Silicon-Valley und den aufstrebenden Nationen aus Fernost etwas entgegenzusetzen, schlägt E-Business-Experte Kollmann eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Gründer vor. "Damit eine Startup-Idee nicht drei-, vier- oder fünfmal in verschiedenen Ländern entwickelt wird, sollte man von Anfang an über ein Netzwerk Transparenz schaffen, um dann vielleicht einen großen Player als Konkurrenten aufzubauen." Der deutsche IT und Neue Medien Branchenverband Bitkom sieht das ähnlich. Er fordert auch Erleichterungen bei der Finanzierung von Digital-Startups.
"In der Gründungsphase hat sich die Situation in den letzten Jahren zwar deutlich verbessert", sagte Niklas Veltkamp von der Bitkom der Deutschen Welle. Aber noch gebe es massive Probleme bei der Wachstumsfinanzierung. "Wenn ein Startup expandieren möchte, braucht es zwischen fünf und 20 Millionen Euro. Und eine solche Summe in Europa zu bekommen, ist die große Herausforderung", erklärt Veltkamp. Die meisten europäischen Geldgeber sind bei der Bewilligung von Risikokapital zurückhaltender als ihre US-amerikanischen Kollegen. Es sei denn, man ändert die Rahmenbedingungen, so dass die Kreditvergabe attraktiver wird. Tobias Kollman von der Universität Duisburg-Essen nennt Großbritannien als Beispiel, "wo man Investitionen in Startups im Rahmen privater Steuererklärungen absetzen kann".
Politiker sollen Weg frei machen
Fast alle diese Vorschläge versucht auch EU-Kommissarin Kroes durchzudrücken. Seit langem fordert sie eine Vereinheitlichung von Standards für Gründerfirmen, eine intensivere IT-Ausbildung, leichtere Kreditvergaben und einen gemeinsamen Markt für internetbezogene Dienstleistungen sowie einen europaweiten Ausbau moderner Breitbandnetze. Aber dafür müssten sich alle 28 EU-Mitgliedsländer auf eine Linie einigen und nationale Egoismen überwinden.
Damit Europa nicht mehr im Schneckentempo durch das IT-Zeitalter kriecht, muss also noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Neben einer Reihe von EU-Finanzierungsprogrammen soll die von Kroes ins Leben gerufene Initiative "Startup Europe" helfen. Sie bringt erfahrene Unternehmer, Gründer, Vertreter sozialer Netzwerke und Investoren zusammen. Außerdem gibt es Wettbewerbe, in denen verdiente Unternehmer ausgezeichnet und die besten zwölf europäischen Startups gefördert werden. Dies könne aber nur ein zusätzlicher Antrieb für Startups sein, sagte Kroes auf einer Pressekonferenz. Denn nicht Politiker, sondern Unternehmer schafften Arbeitsplätze. Freimütig fügte sie hinzu: "Manchmal ist es das Beste, wenn Politiker einfach den Weg freimachen."