Wir Cyborgs
27. Juni 2007Fast hat man sich daran schon gewöhnt, dass es im Internet alles gibt: Flugreisen und Weihnachtsbäume, George W. Bush und Osama bin Laden, Satellitenfotos, dunkle Ecken, Nachrichten in Echtzeit, Second Life - und vielleicht sogar die große Liebe. Kaum fünfzehn Jahre, nachdem die Welt ihr Netz bekam, ist der Alltag kaum mehr wiederzuerkennen.
Etwas Irrsinniges erlebt
Seit mehr als dreißig Jahren gilt nun schon Moore`s Gesetz, wonach sich die Rechenleistung der Computer alle zwei Jahre verdoppelt - eine kaum zu glaubende Leistung von Physik und Industrie. "So etwas Irrsinniges hat keine Generation, wenn ich mal meine Erinnerung bis hinter Homer schweifen lassen darf, erlebt", sagt der Medientheoretiker Friedrich A. Kittler, Jahrgang 1943 - das Jahr, indem der spätere IBM-Chef den weltweiten Bedarf für Computer auf "vielleicht fünf" taxierte.
Es sind bekanntlich ein paar mehr geworden. Aber erst durch das Internet hat der Computer für jeden spürbar den Alltag aufgerollt. Ähnlich wie die Industrielle Revolution 200 Jahre zuvor, hat die digitale Revolution alle Lebensbereiche verändert - in zuvor schwer vorstellbarem Tempo. Anfang der 1990er Jahre, als man noch Telefonbücher, Lexika und Landkarten wälzte und aus dem Urlaub eine Postkarte schrieb, klang vieles, was heute selbstverständlich scheint, noch nach Science Fiction. Dass die Revolution so schnell, so umfassend kam, war nach Meinung der Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Funken von der TU Berlin nicht abzusehen: "Es ist es eine sehr durchgängige, radikale Entwicklung, die wir erlebt haben - und die ist immer noch enorm prozesshaft."
Zukunft von Mensch und Maschine
So prozesshaft, dass kaum jemand ernsthaft prognostizieren will, wie es weitergeht mit dem Zusammenleben von Mensch und Maschine. Die Kommunikation zwischen Gehirn und Prozessor wird sich verbessern. Viele Informatiker halten es aber beispielsweise für wenig wahrscheinlich, dass sich Mensch und Computer wirklich per Stimme unterhalten können. "Schwer zu sagen, wie es weitergeht", sagt Kommunikationswissenschaftlerin Funken. "Sicher ist nur, dass wir eher mehr als weniger Zeit vernetzt verbringen werden."
Prozesshaft wandelt sich auch das Nutzerschema. "Bis vor einigen Jahren konnten wir noch sagen: Der Internet-Nutzer ist jung und männlich - doch das ist vorbei", sagt Funken. Heute ist jede gesellschaftliche Gruppe im Netz unterwegs. Die Geschlechter- und Generationsdifferenz löst sich zunehmend auf, auch viele Ältere gehen inzwischen online. Die Nutzung bleibt der große Unterschied. "Wir wissen, dass die viel diskutierten Baller-Spiele fast nur von Jungs gespielt werden, von Frauen werden hingegen Chats häufiger genutzt."
Bye, bye TV
Die mit dem Netz aufgewachsenen Jungen nutzen das Netz aber am selbstverständlichsten. Am Verhalten der Jungen lassen sich auch am ehesten die Trends ausmachen, wie das Netz zukünftig genutzt wird. Dass "Wie" mag Menschen jenseits der 30 erstaunen: Nach einer Studie von Microsoft und MTV werden E-Mails bereits als langsam und altmodisch angesehen - als Kommunikationsform der Eltern und Lehrer. Die digitale Jugend bevorzugt bei weitem Instant Messaging - den Chat in Echtzeit. Vor allem scheint sich aber der vor zehn Jahren von Andy Grove, dem Chef des Chip-Riesen Intel ausgerufene "Krieg um den Augapfel" in den nächsten Generationen zu entscheiden: Der Computer hat den Fernseher in vielen Jugendzimmern bereits verdrängt. "Das Fernsehgerät wird verschwinden", ist sich auch Kittler sicher. Angeblich surfen Amerikaner schon heute eine Stunde täglich länger im Internet, als sie fernsehen - bye bye TV.
Kommunikation ist für den User die bei weitem wichtigste Funktion des Netzes - eine übereinstimmendes Ergebnis aller Studien. Der Mensch 2.0 tauscht sich per Chat, Instant Messaging, E-Mail, in Foren und auf Plattformen aus. Verschiedenen Studien zufolge gehen in hoch entwickelten Ländern Asiens bereits 60 bis 80 Prozent der Sozial-Kontakte in der wahren Welt Online-Kontakte voraus.
Wenn Second Life zum Leben wird
Ist diese Kommunikation aber eine andere? Ist das Internet eine Ersatzwelt, eine Parallelwelt mit anderen Regeln - oder schlicht die digitale Reflektion der Offline-Welt? "Aus soziologischer Sicht würde ich das so sehen", meint Funken. Dieser Spiegel scheint aber immerhin einigen deutlich besser zu gefallen als das original. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) von 2006 ergab, dass vier Prozent aller Nutzer online-süchtig sind. Bei 35 Millionen Deutschen, die vernetzt sind, wären 1,5 Millionen abhängig. Als süchtig gilt, wer fünf Stunden pro Tag privat im Netz verbringt. Oft sind es vielmehr. Die Süchtigen haben sich aus dem realen Leben verabschiedet - für sie ist das Internet nicht Second, sondern First Life.