Irak: Ringen um nationale Autonomie
19. Mai 2018Rund um die irakischen Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag empfingen einige Politiker des Landes hohen Besuch. Als erster hatte sich, direkt für den Wahltag, der Führer der iranischen Revolutionsgarden, Kasim Soleimani, angekündigt. Noch bevor die Iraker überhaupt über ihren künftigen Premier und ihr neues Parlament entschieden hatten, war der iranische Kommandeur bereits vor Ort, um mögliche Koalitionen der seinem Land genehmen Kräfte zu erörtern. Der Sieg des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr stand zwar noch nicht fest, aber man musste mit ihm rechnen. Al-Sadr hatte bereits im Vorfeld erklärt, dass er von einer Anbindung einer von ihm unterstützten Regierung wie auch des gesamten Irak nichts wissen wolle. Der Irak solle autonom werden - politisch, wirtschaftlich und ideologisch.
Das konnte den Mullahs in Teheran nicht gefallen. Seit Jahren hatten sie sorgsam darauf geachtet, ihren Einfluss im Irak zu halten. Der ehemalige Premierminister Nuri al-Maliki, als Exilant auf der Flucht vor dem Gewaltherrscher Saddam Hussein einige Jahre Gast der iranischen Regierung, war in seiner Dankbarkeit gegenüber Teheran während seiner Regierungszeit ein willfähriger Garant dieses Einflusses. Nach ihm kam Haidar al-Abadi, auch er ein Schiit, aber mit deutlich größerer Distanz zum Iran. Nun geht, wie seit Mitte dieser Woche bekannt, das von Al-Sadr geführte Bündnis Sairun an die Macht. Seit diesem Samstag nun ist das Endergebnis amtlich.
Für den Iran ist der Sieg des schiitischen Nationalisten ein herber Rückschlag. Also bemühte sich Soleimani, ein Bündnis zwischen dessen härtesten schiitischen Rivalen, Nuri al-Maliki und Hadi al-Amiri, dem Führer des Teheran-hörigen Badr-Bündnisses, herzustellen. Immerhin eint die Sadr- und die Badr-Milizen eines: Sie wollen die USA möglichst schnell aus dem Land haben.
"Es geht um die Optik"
Das konnte wiederum der Regierung in Washington nicht gefallen. Und so war am Mittwoch dieser Woche, das Ergebnis der Wahlen war gerade bekannt, der US-amerikanische Gesandte Brett McGurk im Land. Seine Aufgabe: Zu eruieren, wie es künftig um den US-Einfluss im Irak stünde. Das tat er vor allem im Gespräch mit Massoud Barzani, dem Führer der irakischen Kurden, dem verlässlichsten Verbündeten der USA im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS).
Auch in Washington hatte man sich angesichts des Wahlergebnisses einigermaßen verhalten gezeigt. "Ist das das Ende der amerikanischen Präsenz im Irak?", griff US-Diplomat Robert Ford das Ergebnis der Wahlen auf - um auf seine Frage selbst die Antwort zu geben: "Es ist zu früh, das zu sagen." Wenn er aber einen Rat geben sollte, dann den, noch nicht in Panik zu geraten, zitierte ihn der Nachrichtensender CNBC. Und noch einen Ratschlag hatte Ford zur Hand: Die USA sollten sich ein wenig ducken. "Es geht vor allem um die Optik", so Ford. "Die eigene Rolle zu minimieren, und die Rolle der Amerikaner gleichzeitig aufrecht zu erhalten - das ist die Kunst, die die Trump-Administration nun üben sollte."
In Teilen der irakischen Öffentlichkeit kamen beide Besuche nicht gut an. "Es ist ein großer Fehler der Schiiten, die Hilfe des iranischen Generals Kasim Soleimani zu suchen", schrieb die liberale irakische Tageszeitung "Al-Mada". "Es ist auch ein sehr großer Fehler der Kurden, den amerikanischen Diplomaten Brett McGurk aufzusuchen", fuhr das Blatt fort. Die Anwesenheit beider beleidige die irakische Bevölkerung. "Die Iraker haben gerade eine Regierung der nationalen Einheit gewählt, die nicht die schwachen und korrupten Regierungen früherer Jahre fortsetzen soll, auf deren Zusammensetzung Iraner und Amerikaner gleichermaßen einen großen Einfluss haben." Genau damit solle nun Schluss sein, forderte "Al-Mada".
Ambivalente Rollen von Iran und USA
In den vergangenen Jahren hatten sowohl die USA als auch der Iran eine hoch ambivalente Rolle im Irak gespielt. Beide Staaten, deren Verhältnis nach der Aufkündigung des Atomdeals durch die Trump-Administration enorm abgekühlt ist, waren im Irak zuletzt durch ein gemeinsames Interesse miteinander verbunden: den Kampf gegen den IS. Während die USA vor allem auf die Kurden setzten, stärkten die Iraner einen Großteil der schiitischen Milizen, die ihrerseits die irakische Armee etwa bei der Befreiung von Mossul unterstützten.
Das Problem: Beide Staaten hatten an der Entstehung der konfessionellen Gewalt erheblichen Anteil. Die Amerikaner, indem sie im Jahr 2003 auf der Basis schlichter Lügen in den Irak einmarschierten und den Diktator Saddam Hussein stürzten - dann aber erkannten, dass sie kein tragfähiges Konzept zur politischen Befriedung des Vielvölkerstaats hatten. Im Gegenteil: Ihr glückloses Agieren trug maßgeblich dazu bei, dass dschihadistische Bewegungen wie der IS überhaupt erst entstehen konnten.
Der Iran hingegen unterstützte die schiitischen Milizen nicht nur militärisch. Er heizte ihnen auch ideologisch ein. Mehr und mehr häuften sich während des langen Kampfes gegen den IS Berichte über Gräueltaten dieser Milizen an den irakischen Sunniten - auch an Zivilisten. Unter umgekehrten Vorzeichen schien sich nun jene unheilvolle Entwicklung zu wiederholen, die in den Vorjahren zur Entstehung des IS beigetragen hatte. Dieses Mal waren es die Sunniten, die unter terroristischen Übergriffen zu leiden hatten.
"Menschen sind des Konfessionalismus müde"
Eben diese Phase, deutet das Wahlergebnis an, wollen die Iraker nun hinter sich lassen. "Die Menschen sind der konfessionellen Streitigkeiten zwischen Sunniten, Kurden und Schiiten müde", sagt Tim Petschulat, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der jordanischen Hauptstadt Amman. "Sie wollen etwas Neues, sie wollen einen gemeinsamen Nationalstaat."
Eben das, eine umfassende, nicht von Dritten korrumpierte nationale Autonomie, scheint den nicht-irakischen Akteuren ein Dorn im Auge zu sein. Sollte Muktada al-Sadr - er selbst kandidiert nicht, sondern agiert im Hintergrund - eine auf einem breiten politischen Bündnis bestehende nationale Regierung bilden, dürfte sie außenpolitisch vor einer schwierigen Aufgabe stehen: das ihr anvertraute Land vor dem Zugriff von außen zu bewahren.