Unklare Mehrheitsverhältnisse
20. Mai 2014Mithal al-Alusi hat es wieder geschafft. Nach vier Jahren Pause ist er erneut ins irakische Parlament eingezogen. Seine neue "Allianz für zivile Demokratie" hat auf Anhieb drei Sitze in Bagdad gewinnen können. Ihr gehören kleine säkulare, liberale und linke Gruppierungen an, die alle den Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft zum Ziel haben. Das ist ein Novum im Irak nach Saddam Hussein. Bisher wählten die Stimmberechtigten stets entlang ethnischen und religiösen Grenzen. Alusi hat 29.000 Stimmen bekommen und das reicht für den Einzug in die Volksvertretung.
"Mithal ist nicht kleinzukriegen", sagt der 61-jährige Deutsch-Iraker über sich selbst, der früher mit seiner Familie in Hamburg lebte. Im Irak sind seine beiden Söhne umgebracht worden, ermordet von Menschen, die eigentlich dem Vater nach dem Leben trachteten. Als erster Vorsitzender der De-Baathisierungskommission nach dem Sturz Saddam Husseins hat Alusi sich nicht nur Freunde gemacht. Feinde hat er auch seit seinem Besuch in Israel, zu dem er eingeladen wurde, als er 2005 zum ersten Mal den Sprung ins Parlament schaffte. Seine Mitparlamentarier waren so wütend, dass sie seine Immunität aufhoben und ihn wegen Landesverrats einzeigten. Der Richter allerdings sprach ihn frei.
Amtseid trotz Haftbefehl
Er würde heute wieder nach Israel reisen, wenn er eingeladen wird, sagt der Mann aus Falludscha unbeugsam. "Juden gehören zur Geschichte Bagdads und die Reisefreiheit ist ein hohes Gut", sagt einer, dessen Bewegungsfreiheit derzeit gleich doppelt eingeschränkt ist. Setzt er seinen Fuß auf den Boden der irakischen Hauptstadt, riskiert er verhaftet zu werden. Auch in Deutschland existiert ein Haftbefehl gegen ihn. Während Premierminister Nuri al-Maliki in Bagdad Verleumdung und üble Nachrede als Grund für eine Festnahme angibt, will die deutsche Justiz, dass Alusi eine Reststrafe von zwei Jahren absitzt.
Wegen der Besetzung der irakischen Botschaft in Berlin 2002, eine Protestaktion gegen Saddam Hussein, verhängte ein Gericht in Deutschland eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren gegen ihn. Als während des Revisionsverfahrens der Diktator ein Jahr später gestürzt wurde, kehrte Alusi aus seinem deutschen Exil nach Bagdad zurück, ohne die Reststrafe verbüßt zu haben. Jetzt lebt er wieder im Exil, diesmal in Erbil, im kurdischen Teil des Iraks. Alusis aktuelles Problem: Wie kann er unbeschadet seinen Abgeordneteneid im Parlament in Bagdad schwören? Danach würde er Immunität genießen und wäre für Maliki unantastbar.
Nach dem von der Wahlkommission verkündeten vorläufigen Endergebnis hat Premier Maliki mit seiner Rechtstaatskoalition 92 der insgesamt 328 Sitze erringen können. Sie ist damit stärkste politische Kraft. Maliki wird aber nicht alleine regieren können, wie er sich das erhofft hatte. Er wird sogar mehr als einen Partner brauchen, denn alle anderen Parteien und politischen Vereinigungen blieben unter 30 Sitzen. Von denen will momentan allerdings niemand mit Maliki gemeinsam regieren.
Gerüchte über Rolle der USA
Dass der immer unbeliebter gewordene und von nicht wenigen als neuen Diktator Iraks bezeichnete Schiit doch so viele Stimmen bekommen haben soll, ist für viele Iraker der Beweis, dass es bei der Wahl nicht mit rechten Dingen zuging. So heißt es denn auch überall im Land, dass die Amerikaner Schuld an dem Ergebnis hätten. Die Worte des früheren US-Präsidenten George W. Bush klingen noch immer in irakischen Ohren. Der hatte vor acht Jahren mit dem Satz, Maliki sei "der richtige Kerl für Irak" dazu beigetragen, dass der einstige Kompromisskandidat tatsächlich Premier wurde.
Und auch jetzt gehen viele davon aus, dass die Regierung in Washington ihre Finger im Spiel hatte, als es darum ging, Maliki den Weg für eine dritte Amtszeit zu ebnen. Zumal der Irak erst kürzlich neue Kampfflugzeuge und Schnellfeuerwaffen aus den USA erhalten hat. Das stärkt das Gefühl des nach wie vor großen Einflusses der Amerikaner, auch wenn deren Truppen längst abgezogen sind. Gerüchte, dass in den Zählzentren der Wahlkommission US-Bürger gesessen und falsche Daten in die Computer eingegeben haben, hört man sowohl in Bagdad als auch im Nordirak.
Selbst gestandene und als unabhängig geltende irakische Journalisten sprechen von Manipulation seitens der einstigen Besatzungsmacht. Auch wenn internationale Wahlbeobachter beim Besuch der Zählzentren nicht einen einzigen US-Bürger oder sonstigen Ausländer dort gesichtet haben, scheint sich die Stigmatisierung des Bösen in Richtung Washington verfestigt zu haben.
1000 Wahlhelfer suspendiert
Tatsächlich hat Wahlbetrug in größerem Ausmaß stattgefunden. Das räumte der Vorsitzende der Wahlkommission gegenüber dem staatlichen Fernsehsender Iraqia ein. Zwar sei der Wahlvorgang am Wahltag ohne nennenswerte Vorkommnisse abgelaufen, doch das Zählverfahren danach habe die Kommission veranlasst, die Resultate von 300 Wahllokalen wegen eindeutiger Fälschungen zu annullieren. Über 1000 Wahlhelfer seien suspendiert worden, weil sie die Ergebnisse manipuliert hätten.
Probleme gab es auch bei der Wahl in der Provinz Anbar. Durch die heftigen Kämpfe habe ein Drittel der Wähler ihre Stimmen nicht abgeben können, heißt es. Durch die schlechte Sicherheitslage hätte es manchmal mehrere Tage gedauert, bis die Wahlurnen beim Zählzentrum in Bagdad eintrafen. In Iraks flächenmäßig größter Provinz tobt seit Monaten ein Kampf zwischen Stammesführern, Mitgliedern der Terrororganisation ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) und Regierungstruppen.
Die Stadt Falludscha soll schon fest in der Hand der Terroristen sein, deren Ziel es ist, immer weiter an Bagdad heranzurücken. Ihre Anschläge im Vorfeld der Wahl haben fast 3000 Menschen das Leben gekostet. Nach Angaben der UNO haben 400.000 Bewohner die Provinz verlassen. Immer wieder war von einer umfassenden Militäraktion der irakischen Armee die Rede zur Rückeroberung Falludschas die Rede. Doch angesichts drohender Verluste bei der Zivilbevölkerung nahm Premier- und Verteidigungsminister Maliki davon Abstand.
Stachel im Fleisch der Regierenden
Der wiedergewählte Abgeordnete Mithal al-Alusi hat jetzt alle Hände voll zu tun. Er braucht eine sichere Wohnung in Bagdad, Autos, Bodyguards. "Meine Leute sind wunderbar", lobt er das Engagement von vor allem jungen Irakern, die überall in der Hauptstadt als Wahlhelfer fungierten und Poster mit seinem Konterfei aufhängten. Sie schätzen die klaren Worte ihres Chefs, seine Unbeugsamkeit, seine Unnachgiebigkeit. Als kleine Oppositionspartei wollen sie der Stachel im Fleisch der Regierenden werden.
Alusi hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten, sie einzubinden in die politischen Entscheidungsprozesse. Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass aus seinem Land vielleicht doch noch so etwas wie Demokratie erwachsen wird.