Iran: Justiz unterstützt gezielt Einschüchterung von Frauen
15. März 2024Journalisten aus Teheran berichten von einer nervösen Stimmung in den Polizeistationen. Nach einem Vorfall in der Stadt Ghom sei alles zum Stillstand gekommen, die Polizei stehe in Bereitschaft. Das rund 120 Kilometer südlich der Hauptstadt Teheran gelegene Ghom gilt als religiöses Zentrum des Iran und ist eine wichtige religiöse Ausbildungsstätte der Schiiten. Dort war am 9. März in einer Klinik ein Geistlicher von einer wütenden Frau verfolgt worden. Sie wollte ihn zwingen, ein Video von seinem Handy zu löschen.
Der Geistliche hatte die junge Mutter heimlich gefilmt, als sie ohne Kopftuch in einer Ecke saß und ihr krankes Baby stillte. Solche Videoaufnahmen werden an die Justiz übermittelt und dienen als Beweismittel für die Strafverfolgung von Frauen, die in der Öffentlichkeit kein Kopftuch tragen.
Selbst in der Stadt Ghom gibt es Frauen, die gegen Gesetze und Traditionen verstoßen. Wenn aber sogar in lange schwarze Tschadors gehüllte Frauen die drangsalierte junge Mutter unterstützten und den Geistlichen bedrängten, das Video zu löschen, verdeutlicht das die allgemeine Wut der Gesellschaft auf die religiöse Führung. Das Video über den Vorfall verbreitete sich schnell in den sozialen Netzwerken und sorgte für Empörung.
Protestierende werden verhaftet
Schnell verkündete die Staatsanwaltschaft von Ghom die Verhaftung von vier Personen. Darunter auch diejenige, die die Auseinandersetzung der Frauen mit dem Geistlichen aufgezeichnet hatte. Diese Person habe gestanden, das Video aufgenommen und verbreitet zu haben mit "der Absicht, die Gesellschaft zu spalten".
Die regierungstreue Zeitung "Keyhan", ein Sprachrohr des "Revolutionsführers" Ayatollah Khamenei, macht den israelischen Geheimdienst für den Vorfall verantwortlich. Der Mossad versuche, erneut Unruhen im Iran zu schüren, heißt es in einem Leitartikel.
Die Ereignisse in dem Krankenhaus haben das Potenzial, neue Massenproteste im Iran auslösen. Mit welchen Methoden die Behörden in solchen Fällen vorgehen, belegen teilweise geheime Dokumente, die seit Ende Februar im Netz zugänglich sind.
Hacker stellen Justiz bloß
Eine Hackergruppe namens "Edalat-e Ali" (Gerechtigkeit Alis) hat die Server der iranischen Justiz angegriffen und ein umfangreiches Archiv mit Millionen von Akten und Protokollen ins Netz gestellt. Die Gruppe ist seit dem Sommer 2021 im Iran bekannt. Damals hatte sie das Überwachungssystem des berüchtigten Evin-Gefängnisses in Teheran gehackt und Hunderte von Gigabyte an Daten ins Netz gestellt. Die Videos enthüllten unmenschliche Bedingungen für Gefangene in der größten und am stärksten gesicherten Haftanstalt des Landes.
Mit ihrem neuen Cyberangriff haben die Hacker umfangreiche Datensätze der Justiz erbeutet. Darunter befinden sich beispielsweise Sitzungsprotokolle des Nationalen Sicherheitsrats nach dem Tod von Jina Mahsa Amini. Das Protokoll mit dem Siegel "sehr vertraulich" offenbart unter anderem die "Schwerpunkte zum Umgang mit dem Fall Mahsa Amini".
Die 22-jährige Jina Mahsa Amini starb im September 2022 nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei. Die junge Frau soll ihren Hidschab nicht angemessen getragen haben. Ihr Tod löste Straßenproteste aus, mit denen die Machthaber monatelang herausgefordert und die schließlich brutal niedergeschlagen wurden.
Protestbekämpfung durch Desinformation und Einschüchterung
Beim ersten Treffen des Nationalen Sicherheitsrats wurde diskutiert, wie mögliche Proteste eingedämmt werden sollten. Ein wichtiges Thema war dabei die Kontrolle des Internets und der darin veröffentlichten Inhalte. Ziel war es, Unsicherheit im virtuellen Raum zu schaffen. Das heißt in der Praxis: Desinformation betreiben, einflussreiche Persönlichkeiten gezielt angreifen, Aktivisten als Agenten bezeichnen.
Dass die Behörden behaupten, hinter dem jüngsten Vorfall in Ghom stecke der israelische Nachrichtendienst Mossad, passt in dieses Schema: Die Darstellung der Behörden soll die einzige Wahrheit des Geschehens sein. Sich aus unabhängigen Quellen zu informieren, wird kriminalisiert.
"Die Dokumente zeigen, welche Methoden die Justiz benutzt, um Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Studenten und alle anders Denkenden wegen ihres friedlichen Einsatzes einzuschüchtern", sagt Moein Khazaeli im Gespräch mit der DW. Khazaeli hat Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften an der Universität Teheran und an der Universität Malmö in Schweden studiert, wo er derzeit lebt. Er fügt hinzu: "Die Rechte der Bürger werden systematisch von der Justiz verletzt. Jeder, der sich kritisch äußert, muss damit rechnen, eine Akte bei der Justiz zu haben. Man findet in den Dokumenten Akten, die sogar für Journalisten außerhalb des Landes angelegt wurden. Viele von ihnen wurden ohne ihr Wissen zu Gefängnisstrafen verurteilt."
Gleichzeitig hat die Veröffentlichung der Dokumente viel Kritik hervorgerufen. Kahzaeil erklärt: "Diese Informationsmenge, die auch Angaben zu zivilrechtlichen Streitigkeiten mit der Ausweisnummer der Beteiligten enthält, verletzt die Privatsphäre vieler Bürger und gefährdet deren Sicherheit. Diese Informationen können auf verschiedene Weise gegen sie verwendet werden. Zum Beispiel von Kriminellen im Cyberraum."