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PolitikAsien

Iran: Wirtschaftsmisere kann kritische Masse mobilisieren

2. Dezember 2022

Irans Führung reagiert auf die Unzufriedenheit im Volk wegen der hohen Inflation: Mit Gehaltserhöhungen für Staatsdiener und Anweisung zur positiven Berichterstattung. Das dürfte nicht reichen, sagen Experten.

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Auf einem Teheraner Gemüsemarkt
Auf einem Teheraner Gemüsemarkt Bild: Atta Kenare/AFP/Getty Images

Die schwierige wirtschaftliche Lage der Iraner zeigen Daten der staatlichen Statistikbehörde. Demnach ist die Inflationsrate in den letzten neun Monaten von knapp 35 Prozent auf fast 50 Prozent gestiegen. Besonders stark verteuert haben sich Lebensmittel. Die Preise von 27 Lebensmitteln, darunter Mehl, Eier, Milchprodukte, sind im Vergleich zum Vorjahr um 50 bis 100 Prozent gestiegen. Nudeln und iranischer Reis kosten mittlerweile sogar das Dreifache. Fleisch, Fisch oder Geflügel sind für viele Iraner schon lange unerschwinglich. Besonders Menschen in niedrigen Einkommensgruppen spüren den Inflationsdruck. Die wenigsten haben Wohneigentum und müssen steigende Mieten verkraften.

Die Wirtschaftsmisere könnte eine neue starke Protestströmung im Iran verursachen, meint er iranische Politologe Sadegh Zibakalam. Im Gespräch mit der DW sagt er: "Die aktuelle Proteste und Streiks im Iran sind politisch. Protestierende sind momentan junge Menschen, die nach Freiheit streben. Die größte Sorge der Regierung ist aber, dass andere Schichten der Gesellschaft sich diesen Protesten anschließen. Zum Beispiel Menschen, die in benachteiligten Vororten am Rand der Großstädte leben und kaum Aussicht auf ein besseres Leben haben."

"Man kann das Land nicht mit Starrsinn regieren"

Der 71-jährige Politologe gehört zu den wenigen Kritikern der Islamischen Republik, die im Lande leben und es dennoch weiterhin wagen, öffentlich Missstände anzusprechen und das politische System zu kritisieren. Ende November wurde Zibakalam erneut von der Teheraner Staatsanwaltschaft vorgeladen. Angesicht der anhaltenden Proteste hatte er in einem Interview gesagt: "Ich wünschte, jemand würde es wagen, dem religiösen Führer zu sagen, dass man ein Land nicht mit Starrsinn regieren kann". 

Iran Sadeq Zibakalam, Politikwissenschafter
Sadegh Zibakalam, PolitikwissenschafterBild: Imago/Xinhua

Zibakalam aber lässt sich nicht mundtot machen. Momentan zählt er zu den wenigen Experten im Iran, die überhaupt noch mit Journalisten aus dem Ausland sprechen. Im April 2018 verlieh ihm die DW in Bonn den "DW Freedom of Speech Award". Angesprochen auf die gegenwärtigen Proteste sagt Zibakalam: "Die Verantwortlichen im Staatsapparat wollen die Proteste beenden. Aber sie haben keine lösungsorientierte langfristige Strategie für das Land und keine Antwort auf Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Regierung hat über Nacht Maßnahmen wie Gehaltserhöhungen für einen Teil der Angestellten und Rentner angekündigt. Aber das kann nicht die Antwort auf diese Lage sein."

Mit den Maßnahmen wie den erwähnten Gehaltserhöhungen versuche die Regierung, zumindest einen Teil der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Als erstes sollen die Sicherheitskräfte mehr Lohn bekommen. Das Parlament stimmte Ende Oktober einer Erhöhung ihrer Bezüge um 20 Prozent zu. Begründet wird dies damit, dass die Löhne der Sicherheitskräfte im Vergleich zu zivilen Angestellten des Staates bessergestellt werden sollten. 

Vom März 2023 an sollen die Gehälter aller staatlichen Angestellten um mindestens 29 Prozent steigen, betont Regierungssprecher Ali Bahadri Dschahromi seit Mitte Oktober bei fast jedem Treffen mit Journalisten. Wir die Regierung die Gehaltserhöhungen finanzieren will, ist noch nicht geklärt. Ihre wichtigste Einnahmequelle, der Ölexport, wird weiterhin von den USA sanktioniert. Das würde sich nur durch eine Einigung im Streit um das Atomabkommen ändern. Aber die Verhandlungen dazu in Wien treten seit Monaten auf der Stelle und stehen vor dem Scheitern. Hinzu kommt: Traditionell wichtige Importeure iranischen Öls wie Indien und China kaufen momentan mehr russisches Öl als iranisches. 

Die Wahrheit soll verschwiegen werden

Laut Statistikbehörde hat der Iran fast 3.5 Millionen Angestellte im öffentlichen Dienst. Selbst wenn diese durch die Gehaltserhöhungen bessergestellt werden: Das Land hat knapp 84 Millionen Einwohner, und deren große Mehrheit leidet unter der miserablen Wirtschaftslage. "70 Prozent der Bevölkerung glauben nicht, dass sich die Lage der Wirtschaft verbessern wird", steht in einem amtlichen Bericht, der vergangene Woche von einer Hacker-Gruppe veröffentlich wurde. Die Gruppe hatte zuletzt die Website von Farsnews gehackt, einer den Revolutionsgarden nahestehenden Nachrichtenagentur. Dokumente, die an persischsprachige Medien im Ausland weitergegeben wurden, beinhalten auch das Protokoll eines Treffens zwischen einem Kommandeur der Revolutionsgarden und Angestellten von Farsnews.

In diesem Treffen berichtet der Kommandeur über wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung und die Gefahr sich ausweitender Streiks. Mitarbeiter von Farsnews haben Anweisungen bekommen, wie sie über die aktuelle Lage berichten sollten: Weniger über die Protestierenden, mehr über positive Entscheidungen der Regierung. 

Iran I Streik der Lastwagenfahrer
In verschiedenes Teilen des Landes sollen zur Zeit Lastwagenfahrer ihre Arbeit niedergelegt habenBild: Iran Emrooz

Wie viele andere Iraner liest auch Ahmad (Name geändert) keine Nahrichten von Farsnews. "Wir hatten uns einmal den Streiks angeschlossen", berichtet der 27-Jährige aus Teheran. Ahmad arbeitet als Verkäufer in einem Stoff-Geschäft im Großen Basar von Teheran. Letzterer ist eines der wichtigsten Wirtschaftszentren des Landes und versorgt die Geschäfte der Hauptstadt mit Waren. "Aus Solidarität mit den Demonstrationen waren Mitte November drei Tage lang fast alle Geschäfte im Großen Basar geschlossen"; erzählt Ahmad. "Die Aktivisten hatten zum Streik aufgerufen und wollten damit an die gewaltsame Niederschlagung der Proteste von 2019 erinnern. Es kann sein, dass es wieder zu einem Streik kommt. Die Kaufkraft der Menschen ist deutlich gesunken. Viele kaufen im Moment nur das Allernötigste."

Streiks in mehreren Branchen

Immer öfter kommt es zu Streiks, berichten Aktivisten aus dem Iran. In verschiedenes Teilen des Landes sollen zur Zeit Lastwagenfahrer ihre Arbeit niedergelegt haben. Es werden Fotos und Videos von Streiks in wichtigen Industrieunternehmen veröffentlicht, wie etwa der Eisen-Fabrik in Isfahan oder im Stahlwerk Ahwaz im Südiran. "Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Streiks in der Industrie sich ausweiten, ist sehr groß", sagt der Politologe Zibakalam. "Menschen brauchen Perspektiven. Ihre Unzufriedenheit wird nicht ernst genommen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Staatsmacht überhaupt irgendwelche Pläne hat, die die Situation zum Besseren ändern könnten."