Österreich: Neutral sein oder nicht?
20. Mai 2022Mit Schweden und Finnland haben zwei europäische Staaten beschlossen, ihre jahrzehntealte Neutralität aufzugeben. Für Österreich schließt Bundeskanzler Karl Nehammer diesen Schritt aus. Das bekräftigte er unter anderem im April, kurz bevor er nach Moskau reiste, um Präsident Wladimir Putin zur Beendigung des russischen Angriffs auf die Ukraine zu bewegen: "Österreich war neutral, Österreich ist neutral und Österreich wird auch neutral bleiben."
Doch dann haben 50 österreichische Prominente die Frage erneut aufgeworfen. In einem offenen Brief fordern sie Bundespräsident Alexander van der Bellen auf, unabhängig prüfen zu lassen, ob die Neutralität des Landes noch in die Zeit passe. "Es hat immer wieder Vorstöße von verschiedenen Seiten gegeben, die Neutralität aufzugeben, aber sie sind immer wieder gescheitert", sagt der Wiener Politikwissenschaftler Heinz Gärtner. "Es gibt keine große Partei, die das will, und die Bevölkerung will es auch nicht." Regelmäßig sprechen sich in Umfragen mehr als 75 Prozent der Österreicher für die Neutralität aus.
Spätestens damit könnte die Debatte eigentlich vom Tisch sein. Und doch bleibt die Frage, warum die Neutralität Österreichs so unumstößlich scheint, zumal das Land eine aktivere Außenpolitik verfolgt als Schweden und Finnland oder auch die Schweiz.
Warum ist Österreich überhaupt neutral?
Jahrhundertelang war Österreich eine Großmacht, die im Heiligen Römischen Reich den Kaiser stellte und alles andere als neutral war. Im 19. Jahrhundert dann bildete sich das Kaisertum Österreich, aus dem 1867 die kaiserliche und königliche Doppelmonarchie von Österreich-Ungarn wurde, die große Teile des Balkans umfasste und bis in die heutige Ukraine hineinreichte.
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde Österreich durch den Vertrag von Saint-Germain etwa auf die heutigen Grenzen gestutzt. Neutral wurde das Land allerdings erst zehn Jahre nach der neuerlichen Niederlage im Zweiten Weltkrieg - am 26. Oktober 1955 mit dem Staatsvertrag von Wien.
Damals war das Land wie Deutschland von den vier Siegermächten (Russland, USA, Vereinigtes Königreich und Frankreich) besetzt. "Die Neutralität war die einzige Möglichkeit für Österreich, dass die alliierten Truppen abzogen", erklärt Gärtner. "Damals drohte Österreich sogar eine dauerhafte Teilung, ähnlich der deutschen. Diese Gefahr wurde mit dem Konsens der Siegermächte zur Neutralität - insbesondere der Sowjetunion und der USA - abgewendet."
Wie neutral ist Österreich?
Auch wenn die Sowjetunion der Neutralität seinerzeit zustimmte, besteht kein Zweifel darüber, dass Österreich der Kultur und dem demokratisch-marktwirtschaftlichen Wertekanon des Westens zuneigt. Dies drückt sich auch darin aus, dass Österreich 1961 Gründungsmitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurde.
Gleichzeitig aber wurde Österreichs Hauptstadt Wien ab den 1960er Jahren zum Sitz mehrerer wichtiger internationaler Organisationen, die nicht einer der beiden Seiten des Kalten Krieges zugerechnet werden können, darunter die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) und die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) sowie einer Reihe UN-Organisationen. Bruno Kreisky, österreichischer Bundeskanzler von 1970 bis 1983, sah darin eine bessere sicherheitspolitische Alternative zur militärischen Aufrüstung des Landes.
Für den Politologen Gärtner ist dies kein Widerspruch: "Es handelt sich ja nicht um eine Gesinnungsneutralität, sondern um eine militärische." Der Staatsvertrag schließt vor allem drei Dinge aus: die militärische Einmischung in Konflikte anderer Länder, die dauerhafte Stationierung fremder Truppen in Österreich und den Beitritt zu einem Militärbündnis.
Dennoch stellte sich die Sowjetunion, wie auch das Vereinigte Königreich, lange gegen einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft, der Vorgängerorganisation der Europäischen Union (EU). Begründet wurde dies mit einem Passus im Staatsvertrag, der eine "Vereinigung mit Deutschland" ausschloss - auch eine wirtschaftliche. Schließlich stellte Österreich dennoch kurz vor dem Fall der Berliner Mauer den Antrag auf Mitgliedschaft, die es 1995 erhielt.
Wie ist Österreichs Neutralität mit der anderer europäischer Länder zu vergleichen?
Im Falle von Schweden und Finnland war die jahrzehntelange Neutralität nichts anderes als eine freiwillige außenpolitische Doktrin. Österreich und die Schweiz dagegen sind durch völkerrechtlich verbindliche Verträge an die Neutralität gebunden. Ähnlich wie im Falle Österreichs geht auch die Neutralität der Schweiz auf einen Kompromiss der umliegenden Großmächte zurück: Im Wiener Kongress 1814/15 einigten sich Frankreich, Österreich und Preußen darauf, ihre jeweiligen Interessen an dem Gebiet zugunsten einer neutralen Eidgenossenschaft aufzugeben.
Doch auch zwischen den beiden Alpenrepubliken gibt es bedeutende Unterschiede: So war die Schweiz im Gegensatz zu Österreich nie eine Großmacht. Bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 war die Eidgenossenschaft ein mehr oder minder loser Verband souveräner Kleinstaaten.
"Die Schweiz pflegt auch eine passivere Neutralität als Österreich", sagt Gärtner. So schließt sie sich traditionell keinen Wirtschaftssanktionen an, ist kein EU-Mitglied und beteiligt sich somit auch nicht an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Österreich tritt auch deutlich aktiver als Vermittler in internationalen Konflikten auf und beteiligt sich in weit größerem Ausmaß an Blauhelm-Missionen der UN als die Schweiz.
Also: Ist Österreichs Neutralität noch zeitgemäß?
Angesichts der Stimmung in Bevölkerung und Politik stelle sich die Frage, ob Österreich seine Neutralität aufgibt, im Grunde gar nicht, meint Politologe Gärtner: "Viel interessanter wäre eine Debatte darüber, wie Österreich seine Neutralität künftig interpretiert."