Istanbul: Anschlag in giftiger Atmosphäre
2. Januar 2017Das Frühstück am ersten Januar, dem Beginn des neuen Jahres, ist in der Türkei eine Teils beliebte, teils angefeindete Tradition. Traditionell feiern Muslime das Neujahr gemäß dem islamischen Kalender. Dieses Jahr fiele der Jahreswechsel auf den 21. September. Insbesondere säkulare Türken in den Großstädten des Landes feiern aber auch den Jahreswechsel nach dem gregorianischen Kalender. Ihre konservativen Landsleute nehmen das meist hin. Andere aber sind weniger duldsam und sehen in dem Fest einen Angriff auf die muslimische Kultur.
Auch der Staat äußert immer stärkere Kritik an dem Fest. Im Jahr 2003, berichtet das online-Magazin "Al-Monitor", hatte die Religionsbehörde Diyanet Silvesterfeiern noch wohlwollend betrachtet. Dieses, zitiert "Al-Monitor" die damaligen Erklärungen der Behörde, sei "Teil einer universalen Kultur, wie Muttertag oder Vatertag" und deutlich zu unterscheiden von christlichen Festen wie etwa Weihnachten. Mit dieser wohlwollenden, zumindest aber indifferenten Haltung ist es seit geraumer Zeit vorbei. "In den letzten Jahren", so "Al-Monitor" weiter, "haben die Diyanet-Verlautbarungen einen weniger positiven Ton angenommen. Nun weisen sie darauf hin, Feste wie diese 'entfremdeten' die Muslime von ihrer Kultur."
"Keine Freundschaft mit Ungläubigen"
Diese Botschaft wird von Teilen der Bevölkerung angenommen. Kurz vor Weihnachten protestierten Anhänger einer konservativen religiösen Jugendorganisation gegen die zunehmende Beliebtheit der christlichen Weihnachtssymbole unter säkularen Türken, berichtet "Al-Monitor". Ihr Unmut richtete sich dabei nicht nur gegen das Fest. "Sie (die säkularen Türken, Anm. d. Red.) verlassen die Gläubigen und schließen Freundschaft mit den Ungläubigen. Suchen sie Ehre und Würde an deren Seite? Alle Größe und Ehre ist bei Allah."
Der Terroranschlag von Istanbul fällt nicht nur in eine Zeit kultureller Spannungen. Er ereignet sich auch vor dem Hintergrund eines scharfen außenpolitischen Politikwechsels. Seit Beginn des Aufstands in Syrien hatte sich die türkische Regierung unter dem konservativen Premier und späteren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gestellt und sich für dessen Abdankung stark gemacht. Immer wieder war die Regierung auch beschuldigt worden, sunnitische Extremisten logistisch zu unterstützen und ihnen Rückzugsmöglichkeiten auf türkischem Boden zu bieten. Die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül von der türkischen Zeitung "Cumhurriyet" hatten über entsprechende Aktionen berichtet. Darauf hin waren sie zu mehrjährigen - noch nicht rechtskräftigen - Haftstrafen verurteilt worden.
Politische Kehrtwende in der Syrien-Politik
Für viele überraschend hat die Türkei in den vergangenen Wochen einen radikalen Kurswechsel vollzogen. Sie ließ sich auf die Kooperation mit Russland und Iran ein, die beide an der Seite und für den Machterhalt Assads kämpfen. Der türkische Außenminister unterzeichnete kurz vor Weihnachten zusammen mit seinem iranischen und russischen Amtskollegen die so genannte "Moskauer Erklärung". Darin bekunden die drei obersten Diplomaten "ihre volle Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit, Einigkeit und territorialen Integrität der Syrischen Arabischen Republik". Das ist nicht weniger als eine indirekte Erklärung, dass Assad im Amt bleiben solle.
Die nun vollzogene Kehrtwende, schreibt der Polit-Analyst Abdelbari Atwan in der heutigen Ausgabe der in London erscheinenden Zeitung "Ray al-youm", dürfte auf die Unterstützer des "Islamischen Staats" (IS) in der Türkei nicht ohne Wirkung geblieben sein. "Dieser Wechsel, so ist zu vermuten, trug dazu bei, dass die Türkei in das blutige Erdbeben des Terrorismus driftete. Ihre Politik und die Positionen sind konfus, die politische Führung hat ihren Kompass verloren. Das hat ihr eine Menge Feinde verschafft."
Hohn für Opfer des IS
Die Terroristen der Neujahrsnacht hätten vor einem politisch diffusen Hintergrund zugeschlagen, schreibt der ehemalige Journalist der Zeitung "Hürriyet", Bülent Mumay, in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Bei einem Anschlag des IS in Ankara im Oktober 2015, bei dem 100 Menschen getötet wurden, habe der damalige Premierminister Ahmet Davutoglu die Terrororganisation als "Ansammlung von Menschen" bezeichnet, die "aus Wut zueinanderfanden". Davutoglus Stellvertreter Emrullah sei noch einen Schritt weiter gegangen. "Der IS tötet, aber er foltert nicht", erklärte der Vizepremier.
Zudem, so Mumays weiter, sei der IS in der Türkei lange nicht so verfolgt worden, wie es angemessen gewesen wäre. "Aber was ist schon zu erwarten von einem Land, in dem nach den Attentaten von Paris Autos geschmückt mit IS-Flaggen laut hupend durch die Städte fahren konnten? Auf Verständnis stießen hier auch die Pfiffe während der Schweigeminuten, die in Fußballstadien für Opfer von IS-Anschlägen abgehalten worden sind", so Mumay.
Sprachspiele des Präsidenten
Wenig zur Beruhigung dürften auch manche Äußerungen von Staatspräsident Erdogan beitragen. Wiederholt, so Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul im Gespräch mit der DW, habe Staatspräsident Erdogan die Bevölkerung durch unklare Andeutungen verunsichert. "Immer wieder spricht Erdogan es an: Es gebe unsichtbare Hände, unsichtbare Feinde, die versuchen würden, dem Aufstieg der Türkei zu schaden. Das können dann je nach Lesart die Amerikaner, die Juden, die Europäer, die Deutschen sein." Anlässlich seiner Neujahrsansprache hatte Erdogan seine Andeutungen noch einmal wiederholt. "Terrororganisationen sind nur die sichtbaren Gesichter und Werkzeuge dieses Kampfes", erklärte der Staatspräsident. "Wir kämpfen im Wesentlichen gegen die Mächte hinter diesen Organisationen." Welche das sein sollen, ließ er offen.
Im Abwehrkampf vereint hat das Verbrechen in der Neujahrsnacht die Türken offenbar nicht. Viele monierten, dass sich der Staatspräsident anders als sonst zum Tod der mehrheitlich säkularen Gäste des Nachtclubs entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nur schriftlich und nicht mündlich äußerte.