Italien: Das lange Warten auf die Zukunft
28. August 20179.30 Uhr vor Europas größtem Flüchtlingslager: Etwa einhundert Männer, Frauen und Kinder warten in der prallen Sonne auf den Bus, der jeden Morgen nach Mineo fährt. Die Kleinstadt Mineo liegt etwa zehn Kilometer vom Lager entfernt, im sizilianischen Hinterland. Der Bus ist neben klapprigen Fahrrädern die einzige Verbindung zwischen dem abgelegenen, isolierten Lager und der sizilianischen Bevölkerung.
Lange Wartezeit auf Asylbescheid
"Ich nehme den Bus einmal pro Woche", sagt Fabrice* aus der Elfenbeinküste, während der junge Mann Schlange steht. Das sei einfach ein bisschen Abwechslung. Die restliche Woche gehe er tagsüber in den kargen, unbewohnten Hügeln rund um die Flüchtlingsunterkunft spazieren. Sonst gäbe es hier nicht viel zu tun.
Etwa 2900 Asylsuchende aus über vierzig Nationen sind in der ehemaligen Militärbasis untergebracht, die heute als Flüchtlingslager dient. Die bunt angestrichenen Reihenhäuser beherbergten früher auf Sizilien stationierte US-Soldaten. Der Stacheldraht rund um die Basis ist geblieben. Der einzige Eingang zum Lager wird weiterhin von Soldaten mit Maschinengewehren bewacht.
"Wir bekommen hier genug zu essen und jeder hat sein eigenes Zimmer", sagt Fabrice. Einen Sportplatz gibt es zwar, nur sei es in Sizilien oft viel zu heiß für Bewegung im Freien. Arbeiten dürfe er nicht. Die Langeweile mache ihm große Probleme. Fabrice kam vor gut zwei Jahren über das Mittelmeer in Italien an. Seither warte er auf seinen Asylbescheid. "Das lange Warten ist echt hart, aber was bleibt uns hier denn anderes übrig”, sagt er und zuckt mit den Schultern. "Solange ich keine Papiere habe, kann ich mein neues Leben in Italien nicht beginnen."
Muslim in katholischer Gemeinde: "Wie eine Erlösung"
12.00 Uhr in der Kirchengemeinde Sant'Egidio: Auch Karamo Caseey kennt die Langeweile und das Warten gut. Eineinhalb Jahre lebte er in dem Massenlager bei Mineo bevor er wusste, ob er in Italien bleiben darf. Heute bereitet er in der Küche des Gemeindezentrums in Catania das gemeinsame Mittagessen vor. Hühnchen mit Reis steht auf dem Speiseplan. "Das essen Afrikaner eben gern", scherzt der 23-jährige Gambier. Caseey erfuhr erstmals von seinem Italienischlehrer im Flüchtlingslager von der katholischen Gemeinde. Er selbst sei gläubiger Muslim, aber die Kirchenmitglieder hätten ihn trotzdem mit offenen Armen empfangen. "Das war wie eine Erlösung für mich", sagt Caseey.
Die Gemeinde Sant'Egidio begann 2013 auch Migranten zur täglichen Tafel für Obdachlose, Alte und Mittellose einzuladen. Seither renovierten Kirchenmitglieder und Migranten das abbruchreife Haus neben der Kirche und bauten es in ein Gemeindezentrum um. Mitte August organisierte die Kirche ein dreitägiges Sommercamp für Migranten aus ganz Sizilien.
Caseey war einer der ersten Migranten, die an den gemeinsamen Mahlzeiten und Feiern in Catania teilnahmen. "Der Zusammenhalt in der Gemeinde hat mir unheimlich geholfen, als ich noch im Lager gewohnt habe und nicht wusste, was aus mir wird", sagt er. Mittlerweile habe er einen Job und seine eigene kleine Wohnung, erzählt er stolz. Trotzdem kommt er weiterhin fast täglich vorbei. Seine Familie habe er nicht mehr gesehen, seitdem er Gambia als Achtzehnjähriger verlassen hatte. "Sant'Egidio ist jetzt meine neue Familie", sagt Caseey.
Flüchtlingszahlen sind rückläufig
16.00 Uhr im Hafen von Catania: Hier fängt für auf hoher See gerettete Migranten wie Karamo Caseey und Fabrice das lange Warten auf eine Zukunft in Europa an. Die großen, weißen Zelte am Hafenkai sind heute allerdings leer geblieben. Noch vor wenigen Wochen erfassten hier Mitarbeiter der EU-Grenzschutzbehörde Frontex fast jeden Morgen die Fingerabdrücke von Neuankömmlingen. Seitdem die italienische Regierung die libysche Küstenwache mit Marineschiffen unterstützt, um Migranten an der Überfahrt zu hindern, kommen deutlich weniger Migranten in Italien an.
Für Marco Rotunno vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist dies aber kein Hinweis auf ein mögliches Ende der Flüchtlingskrise, denn: "Insgesamt sind dieses Jahr ähnlich viele Migranten angekommen wie im Vorjahr", sagt der Experte. Italien hätte in den letzten Jahren zwar Fortschritte bei der Grundversorgung von Migranten gemacht, gleichzeitig hätten sich aber viele tausende Asylanträge angestaut, die vor allem kleinere Gemeinden wie Catania überfordern.
Bei der Lösung der Flüchtlingskrise sieht Rotunno die Europäische Union in der Pflicht. Bereits vor zwei Jahren hatten die EU-Mitgliedsstaaten beschlossen, 39.600 Flüchtlinge aus Italien in die restlichen Länder umzusiedeln. Bislang fanden aber nur knapp 8.000 ein neues Zuhause. Würden andere EU-Länder Italien Migranten abnehmen, könne Italien effektiv entlastet werden, so der UN-Experte. Dann hätte Italien Kapazitäten die Asylanträge der letzten Jahre abzuarbeiten und die Integration jener Flüchtlinge zu fördern, die sich bereits in Land befänden. "Es mangelt hier aber absolut am Willen der anderen Staaten", sagt Rotunno. "Einige weigern sich sogar nur sehr wenige Flüchtlinge aufzunehmen." Solange der Streit in der EU kein Ende findet, werden Migranten, die in italienischen Häfen sicheren Boden erreichen, vor allem eins brauchen: Viel Geduld.
* Name geändert.