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Politik

Druckmittel Flüchtlinge

Karl Hoffmann
28. Oktober 2016

Wegen der Kritik Brüssels an der italienischen Haushaltspolitik, will Ministerpräsident Matteo Renzi die Zustimmung zum EU-Haushalt mit Verweis auf die Flüchtlingswelle verweigern. Aus Italien Karl Hoffmann.

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Schiff mit geretteten Flüchtlingen im Mittelmeer (Foto: Guardia di Finanza)
Bild: Guardia di Finanza

Ein ungewöhnlich grauer Herbstmorgen im Hafen von Messina. Vorsichtig lenkt Capitano Stefano Sogliuzzo die "Monte Sperone" zwischen Fischerbooten und Autofähren zur Hafenausfahrt. Dann nimmt das schnelle Patrouillenboot Fahrt auf. Ziel ist das Planquadrat M1 vor der libyschen Küste. 400 Seemeilen entfernt. Eine Mission zur Rettung von Flüchtlingen und Festnahme von Menschen im Auftrag von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur. Das Mittelmeer ist längst keine italienische Grenze mehr, sondern eine europäische, denn: "Wir arbeiten hier für ein gemeinsames europäisches Interesse, egal unter welcher Flagge wir fahren. Hier geht es darum, unsere Außengrenzen zu schützen. Wir wollen illegale Aktivitäten verhindern. Zum Schutz unseres Landes, und damit meine ich nicht nur Italien, sondern ganz Europa. Und dazu bedarf es der Zusammenarbeit aller, um unsere gemeinsamen europäischen Außengrenzen zu schützen."

Grenzschutz-Schiff im Mittelmeer (Foto: DW/K. Hoffmann)
Unterwegs auf dem MittelmeerBild: DW/K. Hoffmann

Im südlichen Mittelmeer funktioniert das Miteinander verschiedener EU-Länder - darunter auch Deutschland -, die mit ihren Marineeinheiten täglich hunderte Menschen aus dem Mittelmeer retten und sie in Sizilien oder auf dem italienischen Festland in Sicherheit bringen. Dort aber hört die europäische Solidarität auf. Italien ist seit der Schließung der Balkanroute das Land, in dem nun die meisten Migranten ankommen. In diesem Jahr wird die Vorjahreszahl von etwa 160.000 Menschen wohl deutlich überschritten. Wahrscheinlich 80 Prozent der angekommenen Migranten - damals waren es vor allem syrische Kriegsflüchtlinge - sind auf dem Landweg weitergereist. Doch seit Jahresanfang haben Frankreich und Österreich mit massiven Kontrollen begonnen, der Strom der Migranten staut sich in Italien und die Lage gerät langsam außer Kontrolle. Italien trägt nun die Hauptlast der Flüchtlinge fast alleine.

Viele Flüchtlinge - wenig Geld

Italien ist in der Zwickmühle - allerdings auf ganz anderer Ebene. Brüssel weigert sich, den Haushaltsplan Italiens, wie vorgelegt, abzusegnen. Das Land ist seit sieben Jahren in der Krise, bekommt die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff und muss neue Schulden aufnehmen, die Brüssel nach dem Stabilitätspakt nicht absegnen will. Wo bleibt da die europäische Solidarität - tönt nun der Schlachtruf aus Rom. Ministerpräsident Renzi droht unverhohlen, seinerseits den EU-Haushaltsentwurf für das kommende Jahr zu blockieren, umso mehr, als der höhere Beitragszahlungen der Mitgliedsländer vorsieht.

Italien Grenzschutz im Mittelmeer
Viele Flüchtlinge landen in ItalienBild: Guardia di Finanza

Und er legt den Finger in die Wunde Flüchtlingspolitik, um seine Forderungen nach mehr Flexibilität für Italien zu unterstreichen: "Wenn Ungarn, Tschechien oder die Slowakei sich einerseits über unsere Migranten beschweren, andererseits sich aber weigern, uns zu helfen und dann auch noch unser Geld wollen, dann werden alle Italiener ihrer Regierung beipflichten, dass es kein Geld mehr gibt." Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Renzi das Flüchtlingsproblem zu einem innenpolitischen Druckmittel gegen die rigide Brüsseler Haushaltspolitik benutzen will. Durchaus populistisch formuliert er das so: "Wir werden erst dann unser Geld rausrücken, wenn auch die anderen ihren Teil beitragen. Geld geht nicht durch Mauern hindurch. Wer Mauern aufbaut, kann lange auf unser Geld warten." Renzis stärkstes Argument ist die gescheiterte Verteilung der Migranten auf alle EU Länder.

Nicht nur ein politisches Erdbeben

De facto sind die Probleme der italienischen Haushaltspolitik nicht erst durch die massive Immigration entstanden. Schuld sind vielmehr fehlende Reformen, der hohe Schuldenberg, Korruption und viel zu hohe Staatsausgaben. Die liegen den krisengeplagten Italienern aber weit weniger am Herzen als die aktuellen Notlagen. Seit am Mittwochabend die Erde in Mittelitalien erneut bebte, wird die Forderung nach mehr Solidarität in Europa wieder lauter. Erneut sind Tausende von Menschen obdachlos geworden, auf den Staat kommen zusätzliche Milliardenausgaben zu. Das staatliche Fernsehen sendet in Dauerberichterstattung Interviews von verzweifelten Bewohnern, die nach dem überstandenen Schrecken jetzt vor dem Nichts stehen. Ein neues Drama, das die nicht weniger erschütternde Situation weit im Süden völlig vergessen lässt: das Massensterben im Mittelmeer. Beinahe jede Woche Dutzende von Toten, die aus überfüllten Schlauchbooten auch von der Besatzung der "Monte Sperone" geborgen werden, im europäischen Auftrag. Namenlose Flüchtlinge - seit Anfang des Jahres sollen es 3800 sein, zehnmal mehr Tote als bei dem schweren Erdbeben im August in der Stadt Aamatrice -, die in der EU inzwischen kaum jemand mehr wahrnimmt.

Das Grenzschutz-Schiff "Monte Sperone" im Mittelmeer (Foto: DW/K. Hoffmann)
Die "Monte Sperone" wartet auf ihren nächsten EinsatzBild: DW/K. Hoffmann

Wenig Interesse findet aber auch das Drama, das sich nach geglückter Rettung an Land abspielt. Die Überlebenden werden in bereits überfüllte Lager gebracht. Dort werden sie, weil es an Mitteln fehlt, nur noch notdürftig versorgt. Von geeigneten Maßnahmen für eine mögliche Integration kann keine Rede sein. Noch schlimmer stellt sich die Situation für jene Menschen da, die kein Asyl erhalten - immerhin mittlerweile 60 Prozent der ankommenden Immigranten. Sie leben oft als Illegale in Lagern, die dem berüchtigten Dschungel von Calais ähneln, weil auch sie keine Chance mehr haben, in andere europäische Länder weiter zu reisen. Rechtlose, die als Arbeitssklaven ausgebeutet werden und schon jetzt genügend sozialen Sprengstoff für die Zukunft bilden. Renzis Drohung von der Blockade in Brüssel ist wohl gleichzeitig auch ein dringender Hilferuf.