Jüdische Geschichte von Mieter zu Mieter
8. Mai 2017"Kommen Sie mir nach", sagt Rahel R. Mann und steigt ein paar Stufen in einen alten Keller hinab. "Dahinten habe ich mehrere Monate lang versteckt gelebt", erzählt die 80-Jährige und deutet mit der Hand auf eine alte Holztür.
Der kleine, damals mit Matratzen und Gerümpel vollgestellte Kellerverschlag im Haus Starnberger Straße 2 im Berliner Stadtbezirk Schöneberg hat der Frau vor mehr als 70 Jahren das Leben gerettet. Hier versteckte sich das damals siebenjährige jüdische Mädchen während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und entging somit der Deportation durch die Nationalsozialisten.
"Denk Mal am Ort" heißt ein Projekt in Berlin, das zum 8. Mai, Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, an jüdische Familien erinnert, die einst in Berlin lebten und in der Hauptstadt ein ganz normales Leben führten. Rund 55.000 Personen wurden zwischen 1941 und 1943 aus Berlin deportiert. In die meisten Wohnungen zogen kurz nach der Vertreibung deutsche Bewohner ein.
Das Projekt geht zurück auf eine Idee der Holländerin Denise Citroen. 2012 rief sie in den Niederlanden das Projekt "Open Jewish Homes" ins Leben, bei dem die Teilnehmer die Geschichte von jüdischen Familien in ihrer Nachbarschaft recherchierten. Vor ein paar Jahren begannen dann einige Interessierte in Berlin, nach der Historie ihrer Wohnung zu forschen. "Denk Mal Am Ort" präsentiert einige dieser persönlichen Schicksale.
"Die Sternwohnung"
Für das Projekt öffnen Holocaustüberlebende und Mieter, die wissen, dass in ihrer Wohnung einst jüdische Familien lebten, an ausgewählten Wochenenden ihr Zuhause für die Öffentlichkeit und erinnern an die ehemaligen Bewohner. Überlebende wie Rahel R. Mann berichten von ihrem eigenen Schicksal.
"Wir haben im Hinterhaus im dritten Stock gewohnt", erzählt Rahel Mann vor den rund 30 interessierten Besuchern, die gekommen sind, um ihre Geschichte zu hören. "An unserer Wohnungstür klebte damals ein großer gelber Stern, als Zeichen dafür, dass hier Juden lebten. Ich sprach als kleines Mädchen deshalb immer von der Sternwohnung."
Monatelang im Keller
Den Holocaust überlebte die alte Dame wohl nur, weil sie Glück hatte und mehrere Menschen ihr halfen. Denn als ihre eigene Mutter von den Nazis aus der "Sternwohnung" deportiert wurde, war sie zufällig bei einer Nachbarin. Diese Frau nahm, nachdem Rahels Mutter verschwunden war, das kleine Mädchen bei sich auf und umsorgte es. Irgendwann aber wurde die Situation zu riskant, die Nachbarin hatte Angst, dass man das Mädchen doch noch bei ihr finden könnte. Und so versteckte sie die Kleine schließlich in ihrem Keller.
"Sie brachte mir jeden Tag etwas zu essen, und manchmal holte sie mich auch nach oben in ihre Wohnung, damit ich ein Bad nehmen konnte", erzählt Mann in dem dunklen, kühlen Keller 70 Jahre später. "Bis zum Kriegsende war ich hier unten, bis die Russen im April 1945 in Berlin einmarschierten und mich schließlich in dem Verschlag fanden."
Von Berlin nach Buenos Aires
Der Journalist Hugh Williamson hat über seine Vormieter intensiv recherchiert. In der Wohnung in der Rosenheimer Straße 40, in der er heute mit seiner Frau Anke Hassel lebt, wohnte in den 30-er Jahren eine Familie names Katzenellenbogen. "Es berührt mich sehr zu wissen, wer hier in diesen Räumen gewohnt hat und so viel Leid erfahren musste", sagt er.
Der gebürtige Engländer erfuhr 2011 vom Schicksal seiner Vormieter. "Die Familie hatte drei Haushaltwarengeschäfte hier in der Stadt, eines war gleich um die Ecke", erzählt Williamson. "1939 flohen sie nach Argentinien, wo sie dann jedoch in Armut lebten." Er sei froh, ein wenig über das Schicksal der Familie herausgefunden zu haben und dieses Wissen nun mit anderen INteressierten teilen zu können.
Williamson und seine Frau haben im Wohnzimmer ihrer Wohnung Kopien von Unterlagen ausgelegt, die sie in Berliner Archiven über die Familie Katzenellenbogen finden konnten. Eine Liste mit Gegenständen, die von den Nationalsozialisten konfisziert wurden, ist darunter. Auch ein Schreiben, in dem die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg von Argentinien aus Entschädigung vom deutschen Staat verlangte.
"Ich finde es sehr ergreifend, die Wohnungen zu sehen, aus denen Juden vertrieben wurden", sagt Hiltrud Lupjahn, eine Besucherin, die an diesem Tag schon mehrere Wohnungen besucht hat und den Blick interessiert durch den Raum schweifen lässt. "Es ist was zum Anfassen. Man sieht direkt die alten Wohnungen der Menschen. Man sieht, was sie alles verloren haben."