Jaafar, shu fi? Deutschland hat ein Problem
7. August 2017Sobald ich ein Flüchtlingsheim besuche oder auf der Straße erkannt werde, bildet sich ein Kreis um mich. Ich spreche Arabisch und die Leute haben viele Fragen: Warum habe ich noch keinen Bescheid bekommen vom BAMF? Warum habe ich nur ein Jahr und nicht drei Jahre Aufenthalt bekommen? Warum darf ich meine Familie nicht nachholen? Warum darf ich meinen Wohnsitz nicht wechseln? Warum finde ich immer noch keine Wohnung, keine Arbeit, obwohl ich alles probiere und versuche? Warum, warum, warum?
Mein jüngster Besuch in einem Flüchtlingsheim war in Hamburg. Wieder kamen die vielen Fragen, diesmal hatte aber auch ich eine große Frage. Es war das Heim, in dem Ahmad A. gelebt hat, der Messerangreifer. Ich wollte wissen: Wer ist dieser 26-Jährige, der einen unschuldigen Menschen in einem Supermarkt im Hamburger Stadtteil Barmbek getötet und vier weitere Personen schwer verletzt hat?
Als ich das Heim betrat, fühlte ich mich an mein Studentenwohnheim erinnert. Ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer neben dem anderen, dazwischen die Küche. Der Zimmernachbar erzählte mir, Ahmad sei "sehr religiös und extrem in seiner Haltung” gewesen. Einmal sei Ahmad in sein Zimmer gestürmt und habe ihm verboten, Musik zu hören. Das sei eine Sünde. Ahmad habe die letzten Wochen fast täglich laut den Gebetsaufruf aus seinem Zimmerfenster gerufen, um die anderen Bewohner an die Gebetszeit zu erinnern. Andere Heimbewohner sagten, dass Ahmad sogar eine IS-Flagge in seinem Zimmer gehabt habe. Und wieder andere erzählten, dass er manchmal gekifft habe und psychisch labil gewesen sei. "Wir wussten immer, dass er zu Daesh gehört", sagte eine Frau. Daesh ist eine andere Abkürzung für den IS. "Er lief manchmal mit einer islamischen Jalabiya herum, aber ich habe mich nie getraut, etwas zu sagen." Ein junger Mann schaute mich an und sagte: "Wir haben uns schon mehrmals über Ahmad bei der Heimleitung beschwert, aber keiner hört uns zu. Sie nehmen uns nicht ernst. Wir sind für sie nur eine Nummer." Die Heimleitung bestätigte mir später, dass Ahmad A. als auffällig galt.
Ein grundsätzliches Problem
Aber auch untereinander sprachen die Bewohner nicht offen über ihn. Einige hatten sich nicht getraut, ihre Beobachtungen zu teilen. Sie hatten Angst, dass andere sie mobben würden: "Warum hast du das über Ahmad erzählt?"
An diesem Tag traf ich dutzende junger Männer, die den ganzen Tag nichts zu tun hatten. Der eine hörte Musik, andere kamen vom Einkaufen zurück. Einige kochten gemeinsam oder spielten Basketball. Manche kamen von der Arbeit, einige arbeiteten schwarz, zum Beispiel als Küchenhilfe. Manche besuchten einen Deutschkurs. Andere hingegen haben innerlich aufgegeben. Sie sitzen den ganzen Tag im Flüchtlingsheim, essen, trinken, WhatsAppen mit der Familie. Dann gehen sie schlafen.
Mit jeder weiteren Stunde im Heim schwand meine Motivation, das eigentliche Ziel des Besuchs zu verfolgen, nämlich über den Messerangreifer zu berichten. Meine Beobachtungen an diesem Tag haben mir gezeigt, dass etwas Anderes nicht in Ordnung ist. Dass nicht nur der mutmaßliche Täter das Problem ist. Es gibt ein viel größeres Problem, ein grundsätzliches.
Viele sehen sich als Opfer der deutschen Politik
Viele Flüchtlinge dachten, nach zwei Jahren würde alles gut sein: Sprache, Wohnung, Arbeit, Familiennachzug. Dieser Erwartung hat sich längst in Luft aufgelöst. Die Bearbeitung bei den Behörden zieht sich immer noch. Manche haben bis heute keine Aufenthaltserlaubnis. Sie kämpfen mit der deutschen Sprache. Der Deutschkurs vermittelt ihnen Grundlagen, aber um sich richtig gut unterhalten zu können, müssten sie mit Muttersprachlern in Kontakt kommen und viel üben. Die Wohnungssuche in der Stadt ist nicht einfach, auch für deutsche Bürger nicht. Ein Termin bei den Behörden ist mancherorts fast wie ein Vierer im Lotto und die Bearbeitung dauert lange. Gleichzeitig wächst mit jedem Tag die Sorge um die Familie in der Heimat. Viele wissen nicht, wie ihr Leben in sechs Monaten aussehen wird.
Zwischen dem Warten und den Sorgen kommen viele nicht richtig an in Deutschland. Sie sind zwar physisch hier, aber sie wissen nicht, wie es weitergeht, ob sie bleiben dürfen. Viele sehen sich als Opfer der deutschen Politik. Sie spüren den Stillstand von oben. Jetzt müssen sie etwas leisten: die Sprache lernen, einen Job finden, eine Wohnung, sich in Deutschland integrieren. Und sie müssen Geduld haben, sehr viel Geduld. Einige haben all das geschafft, aber das ist nicht die Regel.
Es ist alarmierend, wenn sich viele junge Leute allein gelassen fühlen. Der Staat muss aufpassen, dass er diese Menschen nicht verliert. Viele haben das Gefühl, nicht genug unterstützt zu werden. Sie haben keine Perspektive, suchen aber nach Halt. Es passieren Dinge, die wir nicht sehen und um die wir uns nicht mehr kümmern. Die Menschen gruppieren sich nach Nationalitäten, Afghanen gegen Araber, oder nach politischen Ansichten, pro und contra Assad in Syrien. Die Konflikte sind uns egal, bis sie zu Gewalt und Streit führen. Vor einem Jahr haben wir Bilder vom Berliner Lageso gesehen, von Menschenmengen, die warten. Wir haben uns empört. Jetzt sind diese Menschen unsichtbar, aber noch immer leben viele in Flüchtlingsheimen.
Die Menschen misstrauen den Behörden
Die Vorwürfe der Heimbewohner sind schwer, vor allem gegenüber den Behörden. Ich höre immer wieder: Die Behörden wollen uns nicht haben, deshalb blockieren sie uns und hören uns nicht zu! Dieses Gefühl darf nicht entstehen. Diese Menschen hatten schon in ihren Heimatländern den Behörden misstraut. Jetzt, sagen sie, hätten sie dieses Gefühl auch hier. Alleine, dass sie mehrmals der Heimleitung den Fall Ahmad gemeldet hatten, aber niemand darauf reagierte, macht sie wütend. Warum hat niemand reagiert? Warum stellten die Polizisten ihn nicht unter schärfere Beobachtung, wenn sie doch wussten, dass er ein Islamist ist? Die Versäumnisse rechtfertigen nicht Ahmads Tat, aber präventive Maßnahmen hätten diesen Angriff vielleicht verhindern können. Und sie können weitere Bluttaten verhindern.
Was außerdem das Misstrauen gegenüber den Behörden und das Opfergefühl nährt: Beide Seiten verstehen einander nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Als Polizisten am Samstag vor Ort nach dem mutmaßlichen Täter fragten, sprachen sie mit den Flüchtlingen Deutsch. Einige haben die Polizisten verstanden, andere nicht. Deshalb konnten sie den Polizisten keine Informationen geben. Gibt es keinen Dolmetscher oder einen Arabisch sprechenden Polizisten, den man dafür hätte einsetzen können?
In den Flüchtlingsheimen muss viel mehr Aufklärung betrieben werden: über Deutschland, die Arbeit der Behörden, das politische System, und so weiter. Offizielle Behörden sollten Vermittler einsetzen, also Deutsche, die einen arabischen Migrationshintergrund haben, die die Sprache und Kultur kennen. Das schafft Vertrauen. Von beiden Seiten muss mehr kommen: Die Ämter müssen besser arbeiten und die Flüchtlinge brauchen mehr Geduld.
Wie auf einer Pegida-Veranstaltung
Auch gegenüber den Medien waren viele Flüchtlinge misstrauisch. "Am Anfang haben alle über uns berichtet. Jetzt berichtet man über uns nur, wenn es etwas Schlechtes zu berichten gibt." Als Araber und Muslime seien sie per se schlechte Menschen oder gar Terroristen. "Warum soll ich mit dir reden? Du schreibst sowieso am Ende, dass der Islam schlecht ist!", sagte mir ein Bewohner. Ich habe mich unter den Flüchtlingen gefühlt wie auf einer Pegida-Veranstaltung.
Eine Lösung könnte sein: Nicht nur berichten, wenn es einen Aufschrei gibt oder wenn es etwas sehr Negatives oder Positives passiert. Die Medien könnten stattdessen über den Alltag der Flüchtlinge und seine Herausforderungen berichten. Sie könnten den Neuankömmlingen weiterhin eine Stimme geben, damit sie das Gefühl haben, wahrgenommen und gehört zu werden. Ich sehe mich als Journalist selbst in der Verantwortung.
Viele Flüchtlinge sind hierher gekommen und werden eventuell auf Dauer hier bleiben. Die Geschichte wiederholt sich: In den 1980er-Jahren kamen die Libanesen und Palästinenser, in den Neunzigern die Balkanflüchtlinge. Viele sind geblieben, nicht alle sind integriert. Wer heute ein Flüchtling ist, könnte morgen ein deutscher Bürger sein. Falls wir integrierte Mitbürger haben wollen, müssen wir aus unserer Geschichte lernen und ihre Sorgen ernst nehmen. Wir müssen ihnen zuhören, hinhören, und das langfristig und kontinuierlich. Ansonsten könnte sich bald eine Parallel-Welt aufbauen, nicht nur in den Flüchtlingsheimen, sondern auch in den Köpfen der Flüchtlinge und der zukünftigen deutschen Bürger.
Jaafar Abdul Karim, 35, ist Moderator und verantwortlicher Redakteur der arabischsprachigen Jugendsendung "ShababTalk" der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion. Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt. Seine Kolumne heißt "Jaafar, shu fi?", arabisch für: "Jaafar, was geht?"