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Jahan: "Erweiterte Perspektive auf Arbeit"

Anka Rasper (ago) 14. Dezember 2015

Mehr Wachstum bringt mehr Jobs - diese Annahme treffe oft nicht zu, sagt Selim Jahan, Hauptautor des UN-Berichts über die menschliche Entwicklung. Es gelte, mehr Beschäftigung zu schaffen und so Wachstum zu erzeugen.

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Ein Junge sitzt auf einem Tankwagen mit Trinkwasser in New Delhi (Foto: AFP)
Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ist vielerorts noch problematischBild: Getty Images/AFP/A. Caballero-Reynolds

DW: Der diesjährige Bericht über die menschliche Entwicklung kommt 25 Jahre nach dem ersten Bericht im Jahr 1990. Welche Fortschritte hat es seitdem gegeben?

Selim Jahan: Im zurückliegenden Vierteljahrhundert ist der Fortschritt der menschlichen Entwicklung weltweit sehr eindrucksvoll. Jede Region hat sich nach dem Index menschlicher Entwicklung (Human Development Index, HDI) konstant weiterentwickelt, obwohl sich das Tempo nach 2010 wegen finanzieller und wirtschaftlicher Krisen verringert hat.

Nehmen wir beispielsweise Afrika. Zwischen 1990 und 2015 haben sich die Werte gemäß dem HDI um 30 Prozent erhöht. Das ist sehr bemerkenswert. In den vergangenen 25 Jahren haben weltweit etwa zwei Milliarden Menschen eine niedrige Entwicklungsstufe hinter sich gelassen. Mehr als eine Milliarde Menschen haben die Armut überwunden, mehr als 2,5 Milliarden haben nun Zugang zu sauberem Wasser. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Fortschritte je nach Region und sogar innerhalb eines Landes ungleich verteilt sind.

Welche Länder oder Bevölkerungsgruppen sind am stärksten benachteiligt und wo liegen nun die wichtigsten Herausforderungen?

Schauen wir auf die Staaten in Afrika. Sie haben schon einiges erreicht, aber ihr Ausgangsniveau war sehr niedrig. In dieser Region gibt es Länder, die gut vorangekommen sind, aber insgesamt wäre mehr möglich gewesen.

Es gibt einige Vorzeigestaaten in Afrika. Mauritius und die Seychellen haben einen hohen Stand erreicht. Dagegen sind Sierra Leone und Niger ganz unten auf der Liste mit 188 Staaten.

Der Direktor des Human Development Report Office, Selim Jahan (Foto: UNDP)
Selim Jahan schrieb bereits an mehreren Bericht über die menschliche Entwicklung mitBild: UNDP/ Dylan Lowthian

Die Frage ist: Welche Hindernisse gibt es, die diese Länder am unteren Ende der Skala halten - und was kann man dagegen tun? Es gibt dort marginalisierte Gruppen. Leute in extremer Armut sind in hohem Maße ausgegrenzt. In vielen Ländern sind die Ureinwohner marginalisiert. Frauen profitieren in vielen Gesellschaften nicht so wie Männer von Fortschritten: Im globalen Schnitt verdienen sie 24 Prozent weniger als Männer. Die Frauen sind benachteiligt, das beeinflusst eine gesamte Gesellschaft. Obwohl sie die nötigen Fähigkeiten mitbringen, haben sie nicht die gleichen Möglichkeiten. Auch Menschen mit Behinderungen sind sehr stark ausgegrenzt.

Der diesjährige Bericht betont die Rolle der Arbeit. Wie definieren Sie Arbeit in dem Bericht? Gibt es eine Verbindung zwischen Arbeit und menschlicher Entwicklung?

Arbeit ist nicht nur ein Job oder eine bezahlte Anstellung. Nach unserem Verständnis umfasst Arbeit auch nicht-bezahlte Fürsorge-Tätigkeiten. Dazu gehören auch freiwillige Arbeiten und kreative Ausdrucksformen. Ehrenamtliche Arbeit gibt Gemeinschaften und Familien durch die gegenseitige Hilfe sehr viel. Kreative Ausdrucksformen wie Schreiben oder Malen vergrößern die menschlichen Potenziale, das Wissen und vieles andere mehr. Wir haben eine erweiterte Perspektive auf Arbeit.

Darüber hinaus glauben wir, dass Arbeit an sich immer zur menschlichen Entwicklung beiträgt, indem sie den Lebensstandard der Menschen verbessert. Weil sie deren Entwicklungsmöglichkeiten vergrößert, gibt sie den Menschen Würde und Ansehen. Aber das sind keine Automatismen. Es gibt auch Arbeiten, die die menschliche Entwicklung beeinträchtigen - Kinderarbeit zum Beispiel. Es gibt Arbeiten, die für Menschen gefährlich sind. Die Menschen sind ungeschützt und ihre Rechte werden verletzt.

Ein Kind arbeitet in einer Textilfabrik in Bangladesch (Foto: picture alliance)
In Textilfabriken - wie hier in Bangladesch - arbeiten häufig KinderBild: picture alliance/ZUMA Press

Welche Strategien sind nötig, damit Arbeit die menschliche Entwicklung voranbringt?

Wir haben einige Ideen vorgestellt. Einige davon sind neu, andere nicht, aber wir haben sie wieder in den Vordergrund gerückt. Eine ist: Es muss nationale Beschäftigungsstrategien geben. Weltweit versuchen 27 Staaten, darunter Sri Lanka und Bangladesch, solche Strategien zu entwickeln.

Ein zweiter Punkt ist: Wir gingen lange davon aus, dass genug Jobs entstehen, wenn wir Wachstum haben. Das hat nicht funktioniert. In einigen Teilen der Welt gibt es Wachstum ohne zusätzliche Jobs. Wir schlagen stattdessen vor: Warum probieren wir nicht ein von der Beschäftigung angetriebenes Wachstum? Warum versuchen wir nicht, Arbeitsplätze und Beschäftigung in den Bereichen zu schaffen, in denen arme Menschen leben? Warum versuchen wir nicht, ihre Produktivität und ihre Kompetenzen zu vergrößern, so dass es eine Aufwärtsspirale von Beschäftigung und Wachstum gibt?

Es ist zu wenig, nur über die Steuerpolitik etwas erreichen zu wollen. Wir schlagen vor: Warum können Zentralbanken nicht eine Doppelfunktion haben, bei der sie die Inflation bekämpfen und Jobs schaffen? Kredite für Arme, für kleine und mittlere Unternehmen, wären eine Möglichkeit. Auch die Frage der Mindestlöhne muss bedacht werden, ebenso die Frage der sozialen Sicherungssysteme.

Es gibt keine Zauberformel, die alle Probleme lösen wird. Es gibt jedoch eine ganze Palette an Möglichkeiten, die verknüpft und an die Rahmenbedingungen der Länder angepasst werden können. Entwicklung ist keine einmalige, sondern eine andauernde Aufgabe.

Selim Jahan ist Direktor des Human Development Report Office des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). Er ist Hauptautor des Berichts über die menschliche Entwicklung 2015.