Zurück zur Atomkraft?
11. August 2015Vor den Toren des Atomkraftwerks Sendai weit im Südwesten Japans demonstrierten am Dienstagvormittag (11.08.) Ortszeit wieder hunderte Bürger mit Megaphonen und Transparenten gegen die Rückkehr der Atomkraft. Doch ihre Rufe blieben ungehört. In Block 1 der mit hohen Stacheldrahtzäunen gesicherten Atomanlage wurde die Kernspaltung in Gang gesetzt. Am Freitag soll dann der erste Atomstrom in Japan seit fast zwei Jahren fließen. Der zweite Block würde Mitte Oktober folgen.
Die Rückkehr der Atomkraft mehr als vier Jahre nach den Kernschmelzen im AKW Fukushima bleibt in Japan jedoch umstritten. Nach einer aktuellen Umfrage der Zeitung Mainichi lehnen 57 Prozent der Japaner den Neustart ab. Nur 30 Prozent sind dafür. Bis zuletzt hatten Bürger vergeblich versucht, das Hochfahren mit Klagen zu stoppen. Aber ein Gericht hielt die neuen Sicherheitsstandards für ausreichend. Auch Kabinettssprecher Yoshihide Suga wischte den Widerstand vom Tisch: "Die lokalen Behörden haben zugestimmt", sagte er. Das überrascht allerdings wenig, weil der AKW-Betrieb die lokale Wirtschaft belebt und die Stadtsäckel füllt.
Dass die Regierung von Premierminister Shinzo Abe die öffentliche Meinung ignorieren kann, erklärt der deutsche Japan-Experte Franz Waldenberger mit dem weiterhin großen Einfluss der regionalen Strom-Monopolisten auf Politik und Wirtschaftsministerium. "Auch die großen Tageszeitungen können sich diesem Einfluss nicht entziehen, so dass die Gegner es doppelt schwer haben, sich Gehör zu verschaffen", meinte der Direktor des Deutschen Instituts für Japan-Studien in Tokio. Dazu komme, dass Abe innerhalb seiner Liberaldemokraten keinen echten Herausforderer habe und eine politische Opposition "zur Zeit nicht stattfinde".
Geschickte Taktik in der Energiepolitik
Der Regierungschef hatte in der Energiepolitik geschickt taktiert. Anfangs versprach er, die Abhängigkeit von der Atomkraft so weit wie möglich zu verringern. Dann erklärte die Kernspaltung zur "Basis-Stromquelle". Schließlich legte sich seine Regierung in ihrem Energiemix für 2030 auf einen Atomstrom-Anteil von 20 bis 22 Prozent fest. Auf dieser Basis versprach Abe dann im Juni beim G-7-Gipfel im bayerischen Schloss Elmau, den Treibgasausstoß von Japan um 26 Prozent zu senken. Ihm geht es vor allem darum, den Import von fossilen Ersatzbrennstoffen für die abgeschalteten AKW zu verringern, damit die Strombetreiber wieder schwarze Zahlen schreiben.
Kyushu Electric, der Betreiber des AKW Sendai, brauchte vor einem Jahr eine staatliche Finanzspritze von 100 Milliarden Yen (735 Millionen Euro). Der Neustart jedes Reaktorblocks verringert die Brennstoffkosten von Kyushu Electric um jährlich 89 Milliarden Yen (654 Millionen Euro). Gingen alle 25 Atomkraftwerke, für die ein Neustart beantragt wurde, ans Netz, würden nach einer Kalkulation von UBS Japan die Strompreise um knapp 9 Prozent fallen. Alle Entscheidungen über den AKW-Betrieb überließ die Abe-Regierung jedoch der neuen Atomaufsicht NRA. Abe hielt sich bis zuletzt zurück und betonte nur, die Sicherheit habe Vorrang.
Zweifel an neuen Sicherheitsauflagen
Genau dies bezweifeln jedoch die Gegner der Atomkraft, die bereits seit der vorläufigen Genehmigung im September 2014 nahe dem AKW Sendai campen und sich auf Bürgeranhörungen zu Wort meldeten. Laut einer Untersuchung der Zeitung Asahi sind nur zwei der 85 medizinischen Einrichtungen und weniger als zehn Prozent der 159 Pflegeheime in einem 30-Kilometer-Radius um das AKW auf eine Evakuierung im Havariefall vorbereitet. "Die Atomindustrie und die Regierung missachten fundamentale Prinzipien des Gesundheitsschutzes", meinte Shaun Burnie von Greenpeace.
Zudem liegt der Sakurajima, einer von Japans aktivsten Vulkanen, nur 50 Kilometer entfernt. Mehrere Vulkanforscher widersprachen der Einschätzung der Aufseher, dass von dem Berg keine Gefahr ausgehe. Die Zeitung Asahi kritisierte die anhaltende "systemische Verwundbarkeit" der Meiler, da sich an ihrer gruppenweisen Anordnung nichts geändert habe. Andere Experten halten bereits das Anfahren der Anlagen nach dem langen Stillstand für gefährlich. Laut dem Industrieverband World Nuclear Association kam es bei allen 14 Reaktoren weltweit, die nach mehr als vier Jahren Pause gestartet wurden, zu Notabschaltungen und technischem Versagen.
Offizielles Atomziel gilt als unrealistisch
Ohnehin gibt es große Zweifel an einer Renaissance der Atomkraft in Japan. "Dazu passiert zu viel bei erneuerbaren Energien, die inzwischen auch in Japan an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen haben", meint der deutsche Japan-Spezialist Waldenberger. Das werde sich auch im Energiemix widerspiegeln. Für die angestrebte Menge an Atomstrom müssten 35 Meiler laufen. Selbst der Chefvolkswirt des industrienahen Instituts für Energie-Wirtschaft, Ken Koyama, bezeichnete dies lediglich als "wünschenswert". Von den 56 Reaktoren vor dem Fukushima-Gau sind nur noch 43 betriebsfähig.
Erst für 25 davon wurde eine neue Betriebsgenehmigung beantragt. Positive Bescheide gab es bislang für fünf Meiler, zwei davon wurden von einem Gericht einkassiert. Mit Prozesslawinen wollen die AKW-Gegner jeden weiteren Neustart verzögern. Ungemach droht den Betreibern der Reaktoren auch woanders: Die Deregulierung des Strommarktes erschwert die AKW-Nutzung, weil die Verbraucher ab 2016 auf grünen Strom umsteigen können. Zugleich geht den Konzernen in wenigen Jahren der AKW-Lagerplatz für verbrauchte Brennelemente aus. In Japan gibt es nämlich nicht einmal ein nationales Zwischenlager.