Japans abrupter Abschied vom Kurilen-Traum
18. Dezember 2020Anfang Dezember hat Russland ein hochmodernes Raketenabwehrsystem im Fernen Osten in Betrieb genommen. Die Batterie auf der Kurileninsel Iturup sei nun kampfbereit, berichtete der TV-Sender Zvezda des Verteidigungsministeriums. Die russische Mitteilung überraschte die japanische Regierung. Im Oktober hatte Moskau lediglich von einem Aufbau im Rahmen eines Manövers gesprochen. Sofort bezeichnete Tokio den Schritt als "inakzeptabel".
Die Stationierung schafft militärische Fakten mit weitreichenden Folgen. Russland schiebt seine Verteidigungslinie im Pazifik gegen die USA und seinen Verbündeten Japan direkt an das japanische Territorium und die dortigen US-Militärbasen heran. Die mobile Abwehrwaffe mit der Bezeichnung S-300V4 feuert überschallschnelle Raketen ab und kann bis zu 24 Ziele gleichzeitig in bis zu 400 Kilometer Entfernung und 37 Kilometer Höhe treffen.
Vergebliche Charmeoffensive
Zugleich beweist die Stationierung auf Iturup, dass Russland die Insel behalten und militärisch nutzen will. Damit enden Japans Hoffnungen auf eine Einigung im Kurilenstreit mit Russland. Über den Zeitraum von sieben Jahren hatte Ex-Premierminister Shinzo Abe mehr als zwei Dutzend Mal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verhandelt, um den Territorialstreit um die vier Kurilen nördlich von Hokkaido zu beenden. Die Sowjetunion hatte die Inseln in der Endphase des Zweiten Weltkriegs besetzt. Mit seiner Charmeoffensive hatte Abe einiges Befremden bei seinen westlichen Partnern ausgelöst. Doch er wollte mit einer Kurilen-Lösung den Weg für einen Friedensvertrag freimachen und dadurch einen letzten Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg ziehen.
Sein Nachfolger Yoshihide Suga hatte im September bekräftigt, diese Verhandlungen abzuschließen. Aus diesem Traum ist Japan nun unsanft aufgewacht. "Die Stationierung bedeutet, dass der russlandfreundliche Kurs von Abe gescheitert ist", meint der deutsche Japanexperte Sebastian Maslow. Damit würden sich die Fronten im Territorialstreit wieder verhärten. "Ein baldiges Friedensabkommen zwischen beiden Ländern ist nun unwahrscheinlich", sagt Maslow, der an der Frauenuniversität Sendai lehrt.
Allerdings dürfte die jüngste Entwicklung für die Japaner nicht ganz überraschend kommen, da sie sich schon länger abgezeichnet hat. Auf den Inseln Iturup und Kunashiri halten sich seit einigen Jahren 3.500 russische Soldaten auf. Seit März 2018 stehen auf dem zivilen Flughafen von Iturup auch zwei Su35S-Kampfflugzeuge. Zudem brachte Russland Kurzstreckenraketen, Radarstationen, Drohnen und eine Artillerieeinheit auf die Inseln. Die Verlegung von Kampfpanzern des Typs T-72B3 auf Iturup ist angeblich geplant. Den dauerhaften Anspruch auf die Kurilen untermauerte der damalige Ministerpräsident Dmitri Medwedew im August 2019 mit einem offiziellen Besuch von Iturup.
Lange anhaltende Illusionen
Trotzdem hatte sich Japan weiter Illusionen über einen Durchbruch gemacht. Noch bei ihrem Treffen Anfang 2019 vereinbarten Abe und Putin, die Verhandlungen zu beschleunigen. Als Basis sollte die gemeinsame Erklärung von 1956 dienen. Darin hatte die Sowjetunion zugesagt, die zwei direkt an Japan grenzenden Inseln Chabomai (jap.: Habomai) und Schikotan (jap.: Shikotan) zurückzugeben und über die zwei anderen Inseln bei einem Friedensvertrag zu verhandeln. Offenbar wollte sich Abe zunächst mit der Rückgabe der zwei kleinen Inseln und einer gemeinsamen Verwaltung der übrigen zwei begnügen. Schon damals bezweifelten Beobachter, ob Putin jemals russisches Territorium aufgeben würde. Ein solcher Schritt könnte leicht als Zeichen der Schwäche interpretiert werden.
Doch Russland betrachtet die Kurilen vor allem im Licht einer Abwehrstrategie auf seiner pazifischen Seite gegen die USA. Moskau will die Seestreitkräfte der USA auf Distanz halten, die sich immer wieder an die russische Küste herantasten. Daher stand letztlich vor allem das Sicherheitsbündnis von Japan mit den USA einer Einigung über die Kurilen im Weg. Auch fürchtet Russland mittelfristig eine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Japan, nachdem die USA den Verbotsvertrag für diese Waffen im August 2019 auslaufen ließen.
Russischer Vorstoß in Machtvakuum
Neben dem Ausbau der Kurilen zu einem Militärstützpunkt verstärkt Moskau daher seine pazifische Flotte bis 2027 mit 70 neuen Kriegsschiffen. Allein in diesem Jahr stellt man 15 Schiffe in Dienst. "Russland räumt seiner geostrategischen Präsenz im asiatisch-pazifischen Region mehr Bedeutung ein", erklärt Experte Maslow. Dabei nutze Russland auch das Machtvakuum, das die USA unter Trump in der Region hinterlassen haben.
Die japanische Regierung befürchtet nun einen pazifischen Schulterschluss zwischen Russland und China. Die Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen: Ende Oktober erklärte Präsident Putin, eine Militärallianz mit China sei "durchaus möglich". Bereits seit acht Jahren veranstalten Moskau und Peking gemeinsame Manöver im Japanischen, Ostchinesischen und Gelben Meer. Vor zwei Jahren beteiligten sich hunderte Panzer und tausende Soldaten aus China in Ostsibirien an Russlands größter Militärübung seit dem Zweiten Weltkrieg. Über dem Japanischen Meer patrouillierten chinesische und russische Kampfbomber im Juli 2019 erstmals gemeinsam, daraufhin feuerte Südkorea Hunderte von Warnschüssen ab.
Die geostrategischen Schachzüge von Moskau dürften die japanische Debatte um das eigene Raketenabwehrsystem beeinflussen. In diesem Jahr hatte sich Japan noch während der Amtszeit von Premier Abe gegen den Aufbau von landgestützten Aegis-Raketenbatterien entschieden und plant nun den Kauf von Abwehrbatterien für seine Seestreitkräfte. Aber auf der Tagesordnung der kommenden Gespräche mit US-Präsident Joe Biden zur Zukunft der japanisch-amerikanischen Allianz dürfte Russland nun viel weiter oben stehen als in der Vergangenheit, meint der Japan-Analyst Maslow.