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Japans Nationalsport Sumo hängt in den Seilen

Julian Ryall aus Tokio
11. Oktober 2022

Dem japanischen Traditionssport laufen die Zuschauer davon. Droht dem Sumo-Ringen sogar das Aus? Kritiker mahnen dringend nötige Reformen an.

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Sumo-Ringer Tamawashi fasst seinen Gegner Takayasu mit der linken Hand an den Hals
Sumo-Ringer Tamawashi (r.) gewann als 37-Jähriger das große Herbstturnier in Tokio Bild: Kyodo/picture alliance

Schwache Kämpfer, schlechte Technik, viele Verletzungen beim großen Herbst-Sumo-Turnier im September in Tokio - Japans Nationalsport steckt nach Meinung vieler Kritiker in einer tiefen Krise. Die Zuschauer würden dem Sumo-Ringen bald den Rücken kehren, wenn sich nichts ändere, prophezeit ein Kritiker in einem Leitartikel der überregionalen japanischen Tageszeitung Sankei Shimbun. Das Turnier in Tokio sei sinnbildlich für die Krise.

Nach 15 Kampftagen im Ryogoku-Kokugikan-Stadion triumphierte Tamawashi Ishiro. Vor dem Wettkampf galt der Mongole als eher unspektakulärer Athlet und war lediglich als "Hiramaku" eingestuft worden, in der fünfhöchsten Klasse im Sumo-Ringen. Mit 37 Jahren wurde Tamawashi zum ältesten Sieger eines "Basho" seit 1958. "Basho" bedeutet sinngemäß "echtes Turnier", dort wird über Auf- und Abstieg der Sumo-Ringer entschieden.

Sumo-Ringer Tamawashi erhält aus den Händen eines Mannes in einem schwarzen Kimono den großen Kaiserpokal
Tamawashi erhält den KaiserpokalBild: Kyodo/picture alliance

"Der Qualitätsabfall bei den Sumo-Kämpfen darf nicht weitergehen", hieß es im Leitartikel der Sankei Shimbun. Praktisch alle Ringer der beiden obersten Kategorien - "Yokozuna" und "Ozeki" - hätten ihre Kämpfe vorzeitig verloren und seien damit aus dem Rennen um die Trophäe, den Kaiserpokal, ausgeschieden. Auch das Trainingsprogramm müsse kritisch hinterfragt werden. So hatte der am höchsten eingestufte Sumo-Ringer des Turniers, der Mongole Terunofuji Haruo, wegen Verletzungen an beiden Knien am zehnten Wettkampftag aufgeben müssen.

Traditionalisten haben das Sagen

"Ich fürchte, Sumo-Ringen ist in Japan ein Auslaufmodell", sagt Sportjournalist Yoichi Igawa der DW. Zum Verhängnis, so Igawa, könne dem mehr als 1300 Jahre alten Sport seine mangelnde Bereitschaft werden, sich zu modernisieren: "Wir sagen, dass Sumo unser Nationalsport ist. Aber die Zuschauerzahlen gehen zurück. Die meisten Besucher sind alt. Das ist kein Sport, der junge Leute anspricht. Was passiert also, wenn die älteren Fans alle wegsterben?" Sumo sei eine "kleine, konservative Welt", in der Veteranen des Rings das Sagen hätten und es eine strenge Hierarchie gebe: "Sie mögen keine Veränderungen. Sie mögen keine Kritiker von außen. Und sie sehen es nicht gerne, wenn ausländische Ringer die besten in einem 'japanischen Sport' sind."

Dieser Einschätzung schließt sich auch Fred Varcoe an. Der britische Journalist hat für Publikationen auf der ganzen Welt über Sumo geschrieben. Der Sport "stecke in seinem Sinn für Traditionalismus fest", sagt Varcoe. "Die Verantwortlichen sind einfach nicht in der Lage, ihn der Gegenwart anzupassen." Es gebe im japanischen Sumo-Verband JSA durchaus Ex-Ringer, die den Sport modernisieren wollten. Sie seien aber in der Minderheit und würden von den zutiefst konservativen Mitgliedern ausmanövriert.

Einer dieser Reformer war Takanohana Koji. Der heute 50-Jährige hatte in seiner Karriere 22 Turniere gewonnen - Platz sechs in der "ewigen" Sumo-Rangliste. 2010 wurde Takanohana Mitglied des JSA-Vorstands, 2018 trat er entnervt zurück.

Skandale, Nachwuchsmangel

Zu den sportlichen Problemen gesellten sich in den vergangenen Jahren einige Skandale: von illegalem Glücksspiel bei Kämpfen über Drogenkonsum unter Ringern bis zu Verbindungen zum organisierten Verbrechen.

Die meisten Sumo-Ringer müssen in kommunalen sogenannten "Ställen" leben, nach strengen traditionellen Regeln. 2007 wurde der Stallmeister Junichi Yamamoto wegen des Todes des 17-jährigen Takashi Saito verhaftet. Später stellte sich heraus, dass Yamamoto den jungen Ringer mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen hatte. Saito hatte den "Stall" verlassen wollen, weil er sich gemobbt fühlte.

Jungen japanische Sumo-Ringer warten auf ihren Einsatz bei einem Wettbewerb in Tokio, ein Junge macht sich mit Dehnübungen warm, die anderen stehen an der Wand
In Japan gehen dem Sumo die Nachwuchsringer aus Bild: Reuters/K. Kyung-Hoon

"Die Qualität der Ringer schwankt auf und ab, wie in jeder anderen Sportart auch", sagt Sumo-Experte Varcoe. "Das größere Problem ist die schnell alternde Bevölkerung Japans. Es gibt nicht genügend Kinder, die den Sport ausüben. Sie wollen lieber mit ihren Handys spielen, statt früh aufzustehen und für einen körperlich anspruchsvollen Sport wie Sumo zu trainieren."

In der Vergangenheit habe die JSA auf den Mangel an japanischen Sumo-Talenten reagiert, indem sie immer mehr Ringer aus dem Ausland holte. "So schafften es Hawaiianer und Mongolen an die Spitze des Sports", sagt Varcoe. Viele stünden dieser Lösung jedoch skeptisch gegenüber, weil sie das Sumo-Ringen japanisch halten wollen. "Es ist sowohl eine Tradition als auch ein Sport. Aber wenn sich die Dinge nicht ändern, wird es kein Wachstum geben. Vielleicht wird Sumo nicht einmal überleben."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Freiberufliche Mitarbeiter, Julian Ryall
Julian Ryall Korrespondent und Reporter in Tokio