John Neumeier: "Kreativität ist ein Geschenk"
24. Februar 201922 Uhr, die Generalprobe zu "Orphée et Euridice", der jüngsten Produktion des Hamburger Balletts John Neumeier, ist gerade vorbei. Die choreografierte Oper ist ein neues Terrain für den Altmeister des Tanzes: Weder ist sie Musiktheater mit Tanzeinlagen, noch ein Ballett, an dem Sänger teilnehmen. "Orphée et Euridice" will ein musikalisches Gesamtkunstwerk sein, in dem auch die Sänger an den Choreografien teilnehmen. Neumeier ist Perfektionist: Noch eine Korrektur, noch ein Gespräch mit den Sängern, und dann eilt der Chef schon zu seinen Tänzern in den Ballettsaal… Dennoch nimmt er sich Zeit für ein Gespräch.
DW: Der Mythos vom Sänger Orpheus ist ein Leitmotiv in Ihrer künstlerischen Biographie: Seit 40 Jahren kehren Sie immer wieder zu diesem Prototyp eines Künstlers zurück. Was reizt Sie an der Orpheus-Figur?
John Neumeier: Ich glaube, es ist die sehr rührende Kombination von mythischer Struktur und menschlichem Versagen. Mythen, wie Märchen, zeigen uns Lektionen.
Diesmal ist Ihr Orpheus sogar ein Choreograf. Finden Sie sich da wieder?
Jedes Ballett, jede Inszenierung ist auch ein Stück von mir. Ich kann kein Ballett machen über etwas, das ich nicht bin. Irgendwie muss ich diesen Teil von mir darin finden, um ihm eine eigene Realität zu geben.
Was wünschen Sie sich zu ihrem 80. Geburtstag?
Für mich ist es ein Geschenk, dass ich kreativ bin. Aber die Arbeit, die ich mache, ist auch schwer. Ich sehe alles, was nicht stimmt in einer Inszenierung. Ich versuche herauszufinden, wie ich es schaffen kann, dass es noch klarer ist und meinem Gefühl von Wahrheit und Ehrlichkeit noch gerechter wird.
Sie haben 160 Ballette kreiert. Was halten Sie persönlich für Ihre Meilensteine?
Es sind verschiedene. Gustav Mahler war ein Meilenstein, denn es hatte noch kein Choreograf eine ganze Symphonie von Mahler choreografiert. Bachs "Matthäus-Passion" war ein Meilenstein. Die "Kameliendame" war ein großes und wichtiges dramatisches Ballett. Und für mich persönlich natürlich "Anna Karenina", das ich vor einem Jahr choreografiert habe. Man hängt natürlich auch an den letzten Sachen, die man gemacht hat.
Ihr Name ist heute fest mit der Stadt Hamburg verbunden. Sie leiten die nach Ihnen benannte Kompanie seit unglaublichen 47 Jahren. Meinen Sie, das Phänomen Neumeier konnte nur in der speziellen hanseatischen Atmosphäre entstehen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich hänge nicht von Hamburg ab. Ich bin hier geblieben, weil meine Arbeit und die Bedingungen für meine Arbeit sich immer weiterentwickelt haben. Neue Tänzer, die Schule, das Bundesjugendballett - deswegen bin ich hier. Ansonsten brauche ich nicht so viel Regen, um zu arbeiten.
Ihr Vertrag als Chef in Hamburg läuft noch bis 2023. Nervt es sie, dass alle anlässlich Ihres Jubiläums darüber spekulieren, ob und wann Sie gehen? Halten sie das womöglich für "typisch deutsch"?
(lacht) Ich will keinen Ärger, aber ich glaube schon, dass es ein deutsches Phänomen ist.
Sie arbeiten weltweit, immer wieder auch in Russland und natürlich in Ihrer Heimat, den USA. Angesicht der Trumps und Putins dieser Welt erscheint Kultur allgemein und Ihre Kunst, Tanz, als letzte Brücke, die diese Länder und Gesellschaften verbindet. Kann man mit der Kunst etwas in der Welt bewegen?
Ich hoffe es - und ich glaube das. Was mich an Russland bewegt, ist die Kultur. Wir waren das letzte Mal zum Gastspiel in Russland im Januar 2016. Ich wollte eine Ausstellung von Valentin Serow sehen, weil er als Porträtmaler auch Tänzer der Kompanie "Ballets Russes" porträtiert hat. Aber es war eine riesige Schlange vor dem Museum! Die Letzten in der Schlange mussten vier Stunden warten, bis sie ins Museum gekommen sind. Es hatte minus 20 Grad. Der Gedanke daran bewegt mich. Ein Land, das Kunst für so wichtig hält, da halte ich wirklich dazu.
So ein Land kann auch politisch nicht ganz verloren sein, meinen Sie?
Wir hoffen es.
Sie schöpfen Kraft aus Ihrer Arbeit. Aber gibt es noch mehr Geheimnisse für geistige und emotionale Fitness?
Ich trinke sehr viel Tee, und ich mache Crosstraining mindestens dreimal in der Woche.
Sie haben am 24.02. Geburtstag, sind also Sternzeichen Fisch. Spüren Sie das, und spielt es für Sie eine Rolle?
Ja, und ich finde es sehr gut. Der große Vaclaw Nijinsky war auch Fisch! (Der russisch-polnische Jahrhunderttänzer Vaclaw Nijinsky, ein Star der Kompanie "Ballets Russes", prägte das Schaffen von John Neumeier. Anm. d. Red.)
Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.