Jüdische Gemeinden in Europa
20. April 2005In Ungarn leben zur Zeit etwa 60.000 bis 100.000 Juden. Die meisten von ihnen gehören der jüdischen Gemeinde in Budapest an. Obwohl es dort vor der Wende die einzige Rabbinerschule im Ostblock gab, fielen die Menschen jüdischer Herkunft nicht auf. Das hat sich seit einigen Jahren geändert. Heute fallen vor allem junge Juden durch ihre orthodoxe Kleidung im Straßenbild auf. "Junge Leute finden das interessant, denn sie haben alle Ideologien verloren - Sozialismus, Kommunismus, Marxismus usw. und ihre Eltern haben ihnen nicht gesagt, dass sie Juden sind. Ich weiß deshalb nicht ob das eine Lebensform ist oder eine Religion", sagt die jüdische Journalistin Éva Széchy.
Auch in Tschechien haben viele Menschen, geprägt von den grausamen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, ihr Judentum abgelegt. Sie haben ihre Religion aus Angst ermordet zu werden sogar vor ihren Kindern verschwiegen. 80.000 Menschen jüdischer Herkunft wurden allein in Böhmen und Mähren umgebracht. Heute leben um die 5.000 Juden in Tschechien, erklärt Robert Rehák von der tschechischen "Gesellschaft der Christen und Juden". "Das ist die offizielle Zahl von Menschen, die sich zum Judentum bekennen. Es leben hier mehrere Tausend Juden, die sich nicht offiziell zum Judentum bekennen. Es gibt hier Familien, die in der zweiten bzw. dritten Generation nicht mehr jüdisch sind, es gibt Familien, die konvertiert sind oder die atheistisch leben."
Auch in der Slowakei, in der nahezu 3000 Juden leben, wird die jüdische Tradition nicht sehr gepflegt. Hier bekennen sich etwa 700 Menschen zum Judentum und besuchen die Synagogen, Jaroslav Franek vom Institut für Judaistik der Comenius-Universität in Bratislava blickt trotzdem positiv in die Zukunft: "Ich bin froh, dass wir überhaupt jüdisches Leben haben, obwohl es mehr eine gesellschaftliche als eine religiöse Sache ist. Ich bin fest überzeugt, dass diese Verbindungen zwischen Juden und jüdischer Tradition viel tiefer sind und viel grundsätzlicher als nur über die Religiosität."
Auch in Rumänien verstecken sich die Juden nicht. Zur Zeit leben in dem südosteuropäischen Staat nahezu 10.000 von ihnen, die ihre Kultur hochhalten und pflegen. Sie nehmen sogar verstärkt am kulturellen Leben des Landes teil. Nicht nur in der Literatur haben die Juden aus Rumänien eine große Rolle gespielt und tun das auch heutzutage. Auch in der Musik und besonders im Theaterleben war und ist der jüdische Beitrag sehr wichtig. Auch heute gibt es in Bukarest noch das Jüdische Staatstheater und manche Stücke werden auf Jiddisch aufgeführt. Natürlich sind nicht mehr alle Schauspieler Juden und so lernen rumänischen Schauspieler Jiddisch, damit die Tradition weiterlebt.
Jüdisches Leben in Frankreich und Großbritannien: Lesen Sie weiter im zweiten Teil.
Frankreich ist kein Zuzugsgebiet für Juden mehr. Das hängt mit den steigenden antisemitischen Zwischenfällen zusammen - allein im letzten Jahr waren es 970, so viel wie nie zuvor. Die Folge: Viele französische Juden wandern nach Israel aus. Die 19-jährige Abiturientin Raphaëlle plant im September Frankreich den Rücken zuzukehren. Sie kommt aus einer jüdischen Familie. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Paris.
Um ihre "Alyah", ihren "Aufstieg nach Israel" vorzubereiten, wandte sich Raphaëlle an die Jewish Agency, die israelische Immigrationsbehörde. Deren wichtigste Zielgruppe sind inzwischen die französischen Juden. Umworben werden vor allem Schüler, Studenten und junge Arbeitnehmer, um die Zahl der Rückkehrer möglichst niedrig zu halten. Die Agentur veranstaltet Informationsabende, organisiert Schnupper-Aufenthalte in Israel und will dieses Jahr israelische Freiwillige als Werber nach Frankreich entsenden. Doch ihre eigentlichen Aufgabe ist Beratung und Unterstützung. Sie warnen sogar vor übereilten Schritten, sagt Raphaëlle. 2000 bis 3000 französische Juden wandern nach Angaben des Dachverbands jüdischer Organisationen in Frankreich pro Jahr nach Israel aus.
Hass-Schriften, Beschimpfungen, Friedhofsverwüstungen und Brandanschläge auf Synagogen kommen auch in Großbritannien vor. Die Vorfälle sind allein im letzten Jahr um über 40 Prozent gestiegen. Für Henry Grunwald, Präsident des Rats der Vertreter der britischen Juden, steht die Zunahme des Antisemitismus in engem Zusammenhang mit Israel und der Intifada: "Es ist klar, dass es einen Zusammenhang zwischen den Spannungen im Nahen Osten und den Vorfällen auf den Straßen von London gibt. Und es ist eine beängstigende Situation, denn sie bedeutet, dass Menschen zur Zielscheibe werden, weil sie Juden sind und aus keinem anderen Grund als dass sie Juden sind."
Tätliche Angriffe werden zumeist von britischen Moslems verübt, doch jüdische Verbände beklagen sich zunehmend über einen linken Antisemitismus, der auf einer anti-israelischen Haltung beruhe. Das Problem scheint jedoch darin zu liegen, dass jede Kritik an der Politik der israelischen Regierung als Antisemitismus ausgelegt wird, auch wenn viele dieser Kritiker britische Juden sind. "Ich bin sehr zufrieden, dass es nicht mehr Angriffe gegen Juden gibt", sagt Henry Grunwald vom "Rat der Vertreter der britischen Juden". "Der Antisemitismus in diesem Land hat nicht das gleiche Ausmaß erreicht, das Juden in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Belgien erfahren, wo gewalttätige Angriffe gegen Juden und jüdische Institutionen an der Tagesordnung sind."