K-Pop-Star Sulli: Unsocial Media
19. Oktober 2019Noch Tage nach dem Tod des K-Popstars Sulli schlachten südkoreanische Medien die Nachricht aus. Am vergangenen Montag (14. Oktober) war die Sängerin tot in ihrem Haus aufgefunden worden - womöglich handelt es sich um den bislang letzten aus einer ganzen Reihe von Suiziden junger Schauspiel- und Musikstars aus Südkorea. Die Boulevardmedien heizen Gerüchte an und verzichten dabei großzügig auf Fakten.
Dass der Tod eines Popstars medial als Teil oder gar Fortsetzung einer Show in Szene gesetzt wird, ist so unappetitlich wie zynischerweise folgerichtig: In Südkorea müssen die meist noch sehr jungen Stars perfekt funktionieren. Sie stehen - so wie Sulli - häufig schon seit Kindertagen unter dem öffentlichen Druck, den Erwartungen der Anhänger gerecht zu werden - nicht nur als Künstler, sondern auch als Privatmensch. Ein Ausscheren aus dem Rollenbild ist nicht vorgesehen. Je öfter Sulli die sozialen Normen missachtete, desto mehr füllten sich die Kommentarspalten auf ihren Social-Media-Kanälen mit Anfeindungen und Hass.
Frauen als Gegenstände
"Prominente sind eine Projektionsfläche und dadurch Gegenstand sowohl von Idealisierung als auch Entwertung", sagt die Psychologin Dorothee Scholz, die zum Thema Hate Speech Workshops gibt und in ihrer Praxis Politikerinnen, Bloggerinnen und Aktivistinnen berät. Besonders Frauen würden häufig Opfer von Beleidigungen durch Personen, die starre Vorstellungen von Geschlechterrollen hätten, sagt sie. "Im Extremfall werden Frauen neuronal eher als Gegenstände, nicht als fühlende und denkende Menschen verarbeitet." Für die Täter ginge es oft um die Bewältigung eigener Unsicherheiten und Defizite durch psychische Gewalt.
Während ihrer gesamten Karriere war Sullis Privatleben für die Boulevardzeitungen von großem Interesse. Dass sie 2018 in einer TV-Show bekannte, schon lange unter Panikstörungen zu leiden, kam in der auf Hochglanz polierten Unterhaltungsindustrie und im diesbezüglich kulturell verschlossenen Südkorea nicht gut an. Bereits 2014 hatte sie nach aufkommenden Gerüchten über ihr Privatleben alle Auftritte mit ihrer damaligen Girlgroup f(x) abgesagt, die sie 2015 schließlich verließ.
Auf Instagram folgten Sulli 6,6 Millionen Abonnenten, dort lud die Sängerin und Schauspielerin auch Bilder hoch, die erkennen ließen, dass sie unter ihren Shirts keinen BH trug. Auf die Kritik, ihr Verhalten sei unangemessen, reagierte Sulli vor ein paar Wochen noch offensiv: "Keinen BH zu tragen bedeutet Freiheit." Die Anfeindungen machten ihr keine Angst, "weil ich meine, dass mehr Leute ihre Vorurteile ablegen sollten". Wie Sulli ums Leben kam, ist noch ungeklärt. Der Druck, unter dem sie stand, zeigt sich jedoch an einem Video, das sie vor einigen Tagen aufgenommen hatte: "Ich bin kein schlechter Mensch. Warum sprecht ihr schlecht über mich? Sagt mir, was ich getan habe, um diese Behandlung zu verdienen."
Kommentare simulieren Menschenmasse
"Gerade bei Jüngeren ist das Selbstbild noch nicht gefestigt", sagt Dorothee Scholz. "Ihnen ist nicht klar, dass die Zuneigung ihrer Fans nicht das ist, was sie als Mensch ausmacht. Wenn die Zuneigung dann abnimmt, kann ihnen das den Boden entziehen.“ Kommentarspalten simulierten eine Menschenmasse, die bei Betroffenen ein Gefühl der sozialen Ausgrenzung auslöse.
Cybermobbing, Hate Speech - jede öffentliche (und mitunter nicht-öffentliche) Person ist spätestens seit der Erfindung von Social Media mit Anfeindungen konfrontiert. Social Media hat den Stammtisch ins Internet gestellt. Die Grenzen verschieben sich - gerade auch in einer Zeit, da selbst ein Landgericht übelste Hasskommentare gegen die deutsche Grünen-Politikerin Renate Künast als sachbezogene Kritik beurteilt und von der Meinungsfreiheit geschützt sieht.
"Online setzt eine Form der Enthemmung ein, im Netz fehlen die regulierenden Umwelteinflüsse. Man erlebt das Gegenüber nicht als Mensch, sondern als Foto, was eine emotionale Distanz erzeugt und Mitgefühl verringert. Damit sinken auch Hemmschwellen zur Gewaltausübung", sagt die Psychologin Dorothee Scholz. Sie empfiehlt, Hate Speech nicht zu lesen, sondern sofort zu löschen. "Hassrede enthält keine valide Kritik oder anderweitig sinnvolle Informationen."
Anfeindungen abtropfen lassen
Wer gefestigter ist, kann sich zumindest aus dem Umgang mit harmloseren Anfeindungen einen Spaß machen. Der britische Sänger James Blunt reagiert auf boshafte Tweets mit britischem Humor: Als ein Zuschauer der "Graham Norton Show" sich aufregte, dass dort Blunt singen durfte, obwohl auch Bruce Springsteen zu Gast war, entgegnet Blunt lakonisch: "Du kriegst, was du verdienst." In anderen Fällen schreckt der Sänger auch vor schlüpfrigen Kontern nicht zurück.
Der US-Late-Night-Talker Jimmy Kimmel hat in seiner Show sogar die Rubrik "Mean Tweets" eingeführt, in der seit Jahren Prominente und Oscar-Preisträger wie Julia Roberts, Matthew McConaughey, Emma Stone oder Gary Oldman gemeine Tweets über sich vorlesen. Danach geben sie vor, geknickt zu sein, stimmen den Verfassern zu oder beleidigen sie zurück. So entziehen sie der Boshaftigkeit den Nährboden.
Digitaler Feierabend
Wer nicht das Standing und die Selbstsicherheit dieser Stars hat, könne sich bei starker Belastung mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen und Freizeitaktivitäten in der analogen Welt fokussieren, sagt Dorothee Scholz. "Auch Prominente sollten nicht ihre gesamte Zeit in die Fanarbeit stecken, sondern sich Pausen gönnen - und einen digitalen Feierabend." Das falle vielen schwer, weil ihr beruflicher Erfolg maßgeblich von ihrer Beliebtheit abhänge: "Dann geht es nicht nur um die eigene Identität, sondern auch um Existenzängste."
In Südkorea ist die Karawane bereits weiter gezogen. Nachdem Sulli durch ihren Tod keine Angriffsfläche mehr bot, konzentrierten sich die angeblichen Fans auf ihren Ex-Freund, den Rapper Choiza. Obwohl sich das Paar bereits vor zwei Jahren getrennt hatte, gaben sie ihm die Schuld an Sullis Tod - und wünschten ihm, er möge bei einem Autounfall sterben.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/ . In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.