Der Quadratwurzelstreit
19. Juni 2007"One man, one vote" ist der wohl griffigste Slogan, mit dem die Former moderner Demokratien deren Essenz zu beschreiben suchten: Jeder Mensch hat eine Stimme. Und nicht selten war diese Erkenntnis Folge revolutionärer Umwälzungen, die im Ruf von der Straße nach "aller Macht dem Volk" ihren Ausgang nahmen. Insofern ist dem polnischen Premier Jaroslaw Kaczynski eine historische Synthese gelungen, die die beiden demokratischen Schlachtrufe vereint: "Jedem Menschen die gleiche Macht." So oder so ähnlich lässt sich die Forderung aus Warschau nach einer anderen Berechnung der Stimmrechte im EU-Ministerrat zusammenfassen.
Die vermeintliche Dickköpfigkeit der Polen ist mehr als nur ein Störfeuer - im Gegenteil. Nach Ansicht vieler Wissenschaftler ist der Einwand durchaus berechtigt. Im Kern würde der polnische Vorschlag einer Quadratwurzelformel dafür sorgen, dass nicht nur die Stimme jedes Europäers zählt, indem er über ein Mitglied der von ihm gewählten nationalen Regierung im EU-Ministerrat vertreten wird. Nein, die Formel verschafft jedem Europäer auch die gleiche Chance, Entscheidungen zu beeinflussen - jeder Bürger Europas erhält die gleiche Abstimmungsmacht.
Status Quo: Arithmetik á la Nizza
War das nicht schon immer so? Nicht wirklich. Der bisherige Modus wurde im Jahr 2000 im Vertrag von Nizza festgelegt. Danach erhält jedes Land im Rat eine Stimmgewichtung, die sich äußerst lose an seiner Einwohnerzahl orientiert. Deutschland mit seinen 82 Millionen Einwohnern kommt im Rat auf 29 Stimmen. Italien, mit 23 Millionen Einwohnern weniger, aber ebenfalls. Polen und Spanien, mit rund der Hälfte der Einwohnerzahl Deutschlands, haben immer noch 27 Stimmen. Relativ gesehen haben also polnische und spanische Wähler gegenwärtig einen größeren Einfluss auf Ratsentscheidungen.
Eine Entscheidung gilt als getroffen, wenn sie mindestens 72 Prozent der insgesamt 345 Stimmen vereinen kann. Außerdem muss eine einfache Mehrheit der Länder mit insgesamt mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung die Entscheidung befürworten.
Der nun so heiß diskutierte Verfassungsentwurf würde das ändern. Damit eine Vorlage angenommen wird, müssen 55 Prozent der Länder ihr zustimmen, die außerdem mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Die erste Bedingung verschafft kleinen Ländern einen Vorteil. Die zweite bedeutet de facto, dass die Stimmengewichtung proportional zur Bevölkerungszahl wird. Größte Verlierer der Reform wären Spanien und Polen. Nach dem neuen Modus würde deren Stimmenzahl im Rat nur noch halb so groß sein wie die der Deutschen.
Vier Mal mehr Einwohner - zwei Mal mehr Stimmen
Die Quadratwurzelformel: Das Prinzip hatte der britische Mathematiker Lionel Penrose bereits vor über 60 Jahren formuliert. Er definierte die Abstimmungsmacht als die Möglichkeit eines Abstimmungsteilnehmers, ein Votum zu entscheiden. Das ist dann der Fall, wenn die Stimmen aller anderen Teilnehmer zu einem Patt führen würden, sagt Werner Kirsch, Mathematikprofessor an der Ruhr-Universität Bochum. Als Beispiel nennt er eine Abstimmung mit drei Teilnehmern. "Es gibt acht Kombinationen, in denen die Einzelnen entweder für Ja oder Nein stimmen können." Entscheiden kann ein Teilnehmer das Votum aber nur in zwei Fällen: Wenn der zweite Teilnehmer für und der dritte dagegen stimmt - oder umgekehrt. "Jeder Teilnehmer dieser Abstimmung hat also eine Abstimmungsmacht von einem Viertel", erläutert Kirsch.
In einer Abstimmung mit vier Mal so vielen Teilnehmern verringert sich die Abstimmungsmacht des Einzelnen um den Faktor zwei, errechnete Penrose. Was bedeutet das für die Abstimmungsmacht eines ganzen Landes - etwa im Ministerrat? Dafür muss die Macht des Einzelnen mit der Bevölkerungszahl multipliziert werden. Das klingt kompliziert, läuft aber auf eine simple Regel hinaus: Damit sie der Abstimmungsmacht eines Landes entspricht, darf die Stimmengewichtung im Ministerrat nicht mehr proportional zu seiner Bevölkerung sein, wie im Verfassungsentwurf vorgesehen. Stattdessen orientiert sich die Gewichtung an der Quadratwurzel der Einwohnerzahl. Im Klartext: Trotz seiner doppelt so großen Bevölkerung würde Deutschland im Ministerrat nicht zwei Mal mehr Stimmen als Polen erhalten, wie der Verfassungsentwurf vorsieht, sondern nur rund 1,4 Mal mehr. Es verwundert also kaum, warum die polnische Regierung ein großer Freund der Quadratwurzellösung ist.
Und die Idee hätte weitere Vorteile, sagt Kirsch: "Die Formel hält die relative Stimmenverteilung gleichermaßen gerecht - auch wenn in Zukunft weitere Länder der Union beitreten sollten."
Ähnliche Probleme
Die Position Polens nachvollziehen kann auch der Entscheidungstheoretiker Dan Felsenthal von der Universität Haifa. Zusammen mit dem Philosophen Mosche Machover vom Londoner King's College hat er eine Monografie zum Thema Abstimmungsmacht verfasst. Das gegenwärtige System von Nizza sei in seiner Stimmengewichtung gar nicht so weit von der Quadratwurzel entfernt, sagt Felsenthal. "Es ist verständlich, dass die Polen sich für eine Lösung einsetzen, die nahe am Status Quo liegt - von dem sie bislang profitieren."
Machover weist darauf hin, dass das gegenwärtige Dilemma, mit dem sich die Europäer herumschlagen, zwar besonders komplex ist, aber kaum einzigartig. "Ein besonders gutes Beispiel dafür, wie man es schlecht machen kann, sind die USA." Die einzelnen Bundesstaaten halten entsprechend ihrer Einwohnerzahl eine unterschiedlich hohe Zahl an Stimmen im so genannten Electoral College.
Wenn ein neuer Präsident gewählt wird, geben sie diese Stimmen geschlossen einem einzigen Kandidaten, auch wenn sich in dem betreffenden Bundesstaat an der Wahlurne nur eine einfache Mehrheit für diesen ausgesprochen hat. Mit bisweilen grotesken Ergebnissen. "Im Jahre 2000 wählten mehr Amerikaner tatsächlich für den Demokraten Al Gore als für den republikanischen US-Präsidenten Bush, der aber aufgrund der Mehrheit im College zum Sieger erklärt wurde", sagt Machover. "Mehrheitsdefizit nennen wir dieses Phänomen."
Genau das Problem existiert im EU-Ministerrat. Der Verfassungsentwurf würde es noch verstärken, sagen die Forscher. In dem Sinne verfechten die Polen nicht nur ein eigenes Interesse. Auch andere mittelgroße Länder und weitere zukünftige Beitrittskandidaten werden genau beobachten, ob und wie sich Ministerpräsident Kaczynski durchsetzen kann. Sie alle könnten davon profitieren.