Kalifat der "angry young men"
9. Juli 2014Die Dschihadisten haben ihren Anführer Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen und damit zum Nachfolger des islamischen Propheten Mohamed ernannt. Die Fernsehbilder des in rabenschwarze Kleidung gehüllten, einen schwarzen Turban tragenden ISIS-Anführers lösten Befremden aus. Bagdhadi, Chef der ISIS genannten Gruppe sunnitischer Kämpfer im Irak, rief nach den militärischen Erfolgen ein Kalifat aus – zunächst für das von seiner Bewegung beherrschte Gebiet. Für seinen ersten Auftritt in der Öffentlichkeit wählte Bagdhadi eine Moschee im gewaltsam eroberten Mossul. Zufall?
Zunächst kein religiöser Herrschaftsanspruch
Die Anhänger von ISIS sind wahhabitische Muslime, die sich selbst als Salafiten bezeichnen. Sie verfechten eine religiöse Deutung der Welt und machen dabei einen unteilbaren, universalen Anspruch des Islam geltend. "Das ist zunächst mal kein religiöser Herrschaftsanspruch und richtet sich auch nicht gegen andere Religionen", weiß Marco Schöller, Islamwissenschaftler und Mitglied des "Excellenzclusters Religion und Politik" der Universität Münster. "Er richtet sich innerislamisch gegen Regime wie Assad in Syrien oder wie die Maliki-Regierung im Irak." Diese seien, wie auch die kurdische Autonomiebehörde im Nordirak, in den Augen vieler Sunniten völlig diskreditiert. "Gegen den Westen ist es ein Kampf auf ideologischer Ebene", resümiert der Wissenschaftler im Gespräch mit der Deutschen Welle, "aber noch nicht auf einer praktischen Ebene".
Mit dem Kalifat richte sich ISIS nicht nur an Gläubige in der Region, sondern erhebe Anspruch auf die weltweite Führung aller Muslime, so der Professor für Islamische Geschichte. "Die Gruppe proklamiert einen weltweiten Dschihad und macht auch der Vormachtstellung von Al-Kaida Konkurrenz."
Genauso hätten verschiedenste Stämme oder Dynastien in der islamischen Geschichte blutig um die Vorherrschaft gerungen und dabei auch mit der Ausrufung von Kalifaten operiert, so der Forscher, der am "Exzellenzcluster Religion und Politik" der Uni Münster über Islamische Dschihad-Konzeptionen in Vergangenheit und Gegenwart forscht. "Oft bestanden mehrere Kalifate gleichzeitig. Heutige Extremisten knüpfen aber an die frühislamische Zeit an und blenden dabei aus, dass in der Geschichte des Islams nie abschließend geklärt wurde, wie das Kalifat eigentlich zu erlangen ist, etwa durch Wahl, Abstimmung oder Erbe."
Wachsende Bedeutung der Religion
Der Kalifen-Titel, der einen Stellvertreter des Propheten oder, je nach Sichtweise, auch Stellvertreter Gottes auf Erden bezeichnet, habe seit der Herrschaft der Umayyaden im 7. Jahrhundert mit Sitz in Damaskus bestanden. Ob die vor den Umayyaden herrschenden Kalifen überhaupt schon diesen Titel benutzten, sei unklar. Die Umayyaden wurden 749 von den Abbasiden abgelöst, die ihren Sitz in den Irak verlegten und in den folgenden Jahrhunderten durch Konkurrenz-Kalifate wiederum in Frage gestellt und schließlich entmachtet wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts schaffte die türkische Regierung das Kalifat per Gesetz ab.
Bezug auf islamische Traditionen
"Die religiöse Dimension des Kalifats spielte im Vergleich zur machtpolitischen Bedeutung schon in den ersten Jahrhunderten nur eine geringe Rolle", so der Arabist. "Heute stellen wir in der islamischen Welt jedoch in allen Bereichen eine Wiederaufwertung der religiösen Aspekte fest." So wie das Kopftuch für Frauen wieder vermehrt als religiöses Symbol verstanden werde, habe auch die geistliche Bedeutung des Kalifats an Gewicht gewonnen. "Dass Abu Bakr al-Baghdadi, der jetzt den Kalifentitel beansprucht, selbst islamische Theologie studiert hat, mag diesen Anspruch bei vielen seiner Anhänger noch bestärken." Auf diese Weise nähmen die Extremisten bewusst Bezug auf islamische Traditionen. Ein westlicher Herrschertitel wie "Präsident" scheide hingegen für sie aus, da er mit Feindbildern verknüpft sei – etwa den Präsidenten arabischer Staaten, die mit der westlichen Welt kooperieren.
Aus mehreren Entwicklungen - dem Bürgerkrieg in Syrien und der instabilen Lage im Irak – habe sich ISIS formiert, "als eine Weiterentwicklung von Al Kaida mit einer viel größeren Reichweite und einer viel größeren Potenz." Der Kalifatsbegriff, so Arabist Schöller, habe sich angeboten, um einen Herrschaftsanspruch der Dschihadisten zu legitimieren: "Man musste dem Kind ja einen Namen geben." Kalifat sei nicht auf ein Gebiet beschränkt, habe für die Muslime einen universellen Anspruch und besitze zudem geschichtliche Vorläufer.
Streit um Erbfolge des Propheten
Die militanten Islamisten eint die Sehnsucht nach einer - aus ihrer Sicht rechtmäßigen - göttlichen Ordnung auf der Erde. Historisch umstritten blieb die Frage des legitimen Nachfolgers des Propheten Mohammed, ungeklärt die politische und religiöse Erbfolge. Und so wurde sie an die vier ersten Kalifen weiter gegeben, auch rechtgeleitete Kalifen genannt - Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali. Die Schiiten erkannten diese Erbfolge nie an; sie halten allein Ali, den vierten Kalifen, und seine Nachkommen für erbberechtigt. Daraus entstand die bittere Feindschaft zwischen Salafiten und Schiiten, die in den letzten Wochen zur Ermordung Hunderter gefangener schiitischer Soldaten und Polizisten durch ISIS geführt hat.
Junge Muslime haben nichts zu verlieren
Welche Anziehungskraft übt das irakisch-syrische Modell aus? "Viele, die sich der ISIS anschließen, tun das nicht, weil es einen Kalifatsstaat gibt", sagt der Islamwissenschaftler Schöller, "sondern weil es eine Möglichkeit ist, die eigene antiwestliche und gegen islamische Regime gerichtete Macht zu stärken." Gleichwohl verweist er auf die vielen "angry young man", jene Hunderttausende junger Muslime, die nichts zu verlieren hätten, außer einem Leben in Unterdrückung und Armut.
Gerade junge Muslime träumen von einer Renaissance des Goldenen Zeitalters des Islams. Das Zurückbleiben der islamischen Länder im Zeitalter der Globalisierung wird gewöhnlich mit der Verschwörung des Westens, hauptsächlich der Amerikaner und Zionisten begründet. Sie wollten den Islam zerstören, heißt es. "Das ist das Problem im Irak und Afghanistan", warnt Schöller, "so lange man die Länder nicht in eine Situation bringt, dass sie den Menschen wirklich was bieten können. So schnell werden wir das Problem nicht loswerden!"
Wie groß ist die Gefahr einer Radikalisierung der Muslime in angrenzenden, bisher gemäßigt muslimischen Ländern? Könnte ein Funke überspringen - etwa in die Türkei? Islamexperte Schöller hält die Gefahr für gering. Doch sicher scheint: Die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches errichteten Kolonialgrenzen drohen zur Makulatur zu werden. Im Nahen Osten zeichnet sich eine Neuordnung ab.