Spritzen statt Schluckimpfung
19. Oktober 2014Binith Sundas Berdewa hat Angst vor Spritzen. Kein Wunder, er ist erst ein kleines Baby. Gerade hat ihn eine Frau im Ärztekittel ganz furchtbar gepiekst - Binith schreit wie am Spieß.
Auch wenn der Kleine das noch nicht wissen kann: Er hat gerade eine ganz besondere Spritze erhalten. Denn Binith Sundas ist das erste Kind in Nepal, dass mit einem injizierbaren Impfstoff gegen Kinderlähmung geimpft wurde - anstelle mit der Schluckimpfung, die in Entwicklungsländern üblich ist. Kinderlähmung wird von Viren verursacht und kann Lähmungen und lebenslange Behinderungen hervorrufen.
NGO- und Regierungsvertreter sowie Ärzte und Krankenschwestern haben sich hier, in einem Krankenhaus in Nepals Hauptstadt Kathmandu versammelt, um den Startschuss für den injizierbaren Impfstoff in Nepal zu feiern. "Das ist heute zweifellos ein sehr bedeutendes Ereignis", sagt Santosh Gurup vom Büro der Weltgesundheitsorganisation in Nepal. "Wir kommen der Ausrottung der Kinderlähmung einen Schritt näher."
Impfstoff kann die Krankheit auslösen
Gesundheitsexperten sagen, dass Impfungen sicher sind - und das stimmt auch. Im Falle von Polio sind allerdings einige Impfstoffe sicherer als andere.
Die Schluckimpfung ist sehr beliebt bei Kindern, denn sie benötigt keine Spritzen. Der Arzt tropft einfach etwas Flüssigkeit in den Mund des Kindes. Oder das Kind isst ein Stück Zucker, dass mit dem Impfstoff getränkt ist - so war es lange Zeit in Deutschland der Fall.
Die Schluckimpfung hat aber einen großen Nachteil, sagt Hendrikus Raaijmakers, Leiter der Gesundheitsabteilung beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) in Nepal. "Der Impfstoff kann in seltenen Fällen auch Polio bei Kindern hervorrufen. Es passiert zwar nicht oft, aber es passiert." In einigen Ländern Afrikas und Asiens habe es sogar schon kleine Polio-Ausbrüche gegeben, an denen der Impfstoff schuld war.
Der Impfstoff, der bei der Schluckimpfung eingesetzt wird, enthält aktive Viren, die sich aus dem Darm ins Nervensystem begeben und dort Lähmungen hervorrufen können - ganz genau, wie es auch der wild kursierende Virus macht.
Sicherer, aber teurer
Es gibt noch einen anderen Impfstoff: den injizierbaren, der jetzt auch in Nepal eingeführt wird. Er enthält inaktivierte Viren. "Er schützt vor Polio, aber kann die Krankheit selbst nicht auslösen", sagt Raaijmakers.
Industrieländer wie Deutschland und die Vereinigten Staaten benutzen den inaktivierten Impfstoff bereits seit vielen Jahren. Deutschland hat im Jahr 1999 die Schluckimpfung abgeschafft, die USA im darauffolgenden Jahr. Entwicklungsländer allerdings verlassen sich noch immer auf die Schluckimpfung - einfach deshalb, weil der Impfstoff billiger ist.
Die aktiven Viren aus dem Impfstoff für die Schluckimpfung können sich im menschlichen Körper vervielfältigen - daher braucht man nur geringe Mengen, um eine Immunantwort auszulösen. Vom injizierbaren Impfstoff braucht man größere Mengen - und das macht ihn teurer. Eine Dosis kostet etwa 1 US-Dollar, die Schluckimpfung hingegen nur wenige Cent - für ein Entwicklungsland ist das ein riesiger Unterschied.
Nepal macht den ersten Schritt
Nach Nepal folgen die Philippinen, die Malediven und Bangladesch: Sie führen als nächstes den neuen Impfstoff ein. Die Organisation Gavi, zusammengesetzt aus öffentlichen und privaten Geldgebern, unterstützt seine Einführung in den 73 ärmsten Ländern der Welt finanziell.
Die Umstellung auf den injizierbaren Impfstoff ist Teil der Initiative zur weltweiten Ausrottung der Kinderlähmung, unter anderem getragen von der WHO und Unicef. Sie will die Krankheit bis zum Jahr 2018 ausmerzen.
Shyam Raj Upreti, Leiter der Abteilung für Kindergesundheit im nepalesischen Gesundheitsministerium sagt, er sei sehr glücklich, dass Nepal so weit gekommen sei. "Denn wenn wir Polio nicht ausrotten, was wird dann in Nepal und auf der ganzen Welt passieren? So viele Kinder werden gelähmt und sind fürs ganze Leben behindert." Und er fügt hinzu: "Wenn wir die Krankheit endgültig ausrotten, können wir viel Geld sparen, und das können wir in andere öffentliche Einrichtungen stecken."
Eine Krankheit mit bleibenden Schäden
In Nepal gab es einst sehr viele Fälle von Kinderlähmung. Jetzt ist es offiziell frei von Polio, der letzte Fall trat im Jahr 2010 auf. Aber Ärzte erzählen, dass sie noch immer viele erwachsene Patienten sehen, die damals erkrankt waren und daher jetzt behindert sind.
"Als ich ein Kind war, hatte ich drei Freunde, die von Polio betroffen waren", erzählt Sangita Shakya, Kinderärztin in Kathmandu. "Ihre Gliedmaßen waren sehr klein, sie konnten nicht laufen, sie mussten sich auf allen Vieren fortbewegen. Damals wusste ich noch nicht, woran das lag, aber jetzt, als Ärztin weiß ich: Sie alle hatten Kinderlähmung."
Die Krankheit kommt noch immer in Afghanistan, Pakistan und Nigeria vor. Von dort kann sie sich auf andere Länder ausbreiten. "Viele der vergangenen Poliofälle, die wir in Nepal hatten, waren aus unserem Nachbarland Indien importiert", sagt Santosh Gurup von der WHO. Daher sei es wichtig, auch in Ländern, in denen es offiziell kein Polio mehr gibt, weiter gegen den Virus zu impfen - bis die Krankheit weltweit ausgerottet ist.
Die Ehre der Impfung
Binith Sundas Berdewa kann sich jetzt ausruhen: Die Impfung ist vorbei. "Wenn er zu Ende geweint hat, wird er berühmt werden", sagt seine Mutter Nisha und lacht. Sie strahlt vor Freude, weil ihr Sohn das erste nepalesische Kind ist, dass den injizierbaren Impfstoff bekommen hat.
Der Impfstoff wird zunächst die Schluckimpfung in Nepal ergänzen und ab 2016 komplett ablösen.
Gesundheitsexperten hoffen, dass Kinderlähmung auf der ganzen Welt bis zum Jahr 2018 ausgerottet ist. Dann wäre sie die zweite Krankheit, die dank Impfungen von unserem Planeten verschwunden ist - nach den Pocken.