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Kampf mit den Objekten: Jacques Tati

Jochen Kürten1. Juni 2015

Jacques Tati hat nur fünf Spielfilme gedreht. Und doch steht er in einer Reihe mit den großen Filmkomikern der Kinogeschichte. Sein komplettes Werk ist jetzt frisch restauriert wiederzuentdecken.

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Filmszene aus dem Film "Trafic" (Foto: Studiocanal)
Bild: Studiocanal

Heute würde sich Tati vermutlich mit Laptop und Smartphone auseinandersetzen. Und zeigen, wie der Mensch des 21. Jahrhunderts mit den Tücken der digitalen Welt zurechtkommt. Zeit seines Lebens hat der 1907 im Westen von Paris geborene Tati Geschichten erzählt von Menschen, die in irgendeiner Art und Weise fremd waren in einer Welt der Dinge, der Objekte und Gegenstände.

Unvergessliche Figur: Mr. Hulot

Das konnte das Fahrrad eines Briefträgers sein, eine Wohnung, ausgestattet mit allen Schikanen moderner Einrichtungstechnik, eine futuristische Stadt, auch Autos, Fortbewegungsmittel jeglicher Art. Tati erfand dafür in seinem zweiten Film "Die Ferien des Mr. Hulot" eine unvergessliche Figur: ebenjenen Mr. Hulot, gespielt von ihm selbst, der sich in einem fortwährenden Kampf befand mit den Alltagsgegenständen der modernen Welt.

Filmszene aus dem Film "Die Ferien des Mr. Hulot" (Foto: Studiocanal)
Mr. Hulot am Strand - das Abtrocknen will nicht recht gelingen...Bild: Studiocanal

Hulot, stets mit zu kurz geschnittenem Mantel, Hochwasserhosen, einem albernen Hütchen und Regenschirm ausgestattet, wurde zu einer ikonografischen Figur des französischen Kinos. Der staksige Gang und der scheinbar orientierungslos herumschweifende Blick taten ihr Übriges. Eine grotesk-witzige Figur war dieser Hulot - aber immer auch sympathisch, ein wenig das Mitleid des Zuschauers erheischend.

Mimik und Gestik

Wie Buster Keaton befand sich Hulot immer im Zentrum des Sturms. In ihren Filmen kämpften beide gegen Windmühlen, unterlagen stets, standen aber ebenso rasch wieder auf, um dem Leben und der sich feindlich zeigenden Umwelt mutig die Stirn zu bieten. Buster Keaton, dessen starrer Gesichtsausdruck stark an das Spiel seines französischen Nachkommen erinnert, war dann auch eines der Idole Tatis.

Filmszene aus dem Film "Playtime" (Foto: Studiocanal)
Mr. Hulot in kafkaesken Welten in "Playtime"Bild: Studiocanal

Die nun vorliegende Jacques-Tati-Box ist eine editorische Großtat, ein Leckerbissen für alle Filmfans. Und anders als bei den meisten großen Regisseuren der Kinogeschichte hat die Tati-Box den Vorteil der Vollständigkeit. Die fünf Langfilme des Regisseurs sind ebenso enthalten wie sämtliche Kurzfilme. Man hat die Möglichkeit, das komplette Werk eines Künstlers zu sehen - von seinen Anfängen bis zum letzten auf Zelluloid gebrachten Filmbild.

Komplett restauriertes Werk

Tatis Werke wurden in den vergangenen Jahren von verschiedenen europäischen Institutionen und Filmarchiven sorgfältig rekonstruiert und restauriert. Auch diese komplizierte, langwierige wie aufwendige Wiederentstehungsgeschichte der Filme kann man nachlesen: im ausführlichen Booklet der nun vorliegenden DVD-Ausgabe.

Filmszene aus dem Film "Trafic" (Foto: Studiocanal)
Hulot entwirft Camping-Autos ganz besonderer Art in "Trafic"Bild: Studiocanal

"Die Ferien des Mr. Hulot" (1953) dürfte auch heute noch der bekannteste Film Tatis sein. Für seinen dritten Langfilm "Mon Oncle" (1958) bekam er in Hollywood den Oscar für den besten ausländischen Film. Sein vierter Film "Playtime" (1967) wurde zum finanziellen Desaster, verschuldete sich der Franzose doch mit diesem Werk, für das er eine futuristische Kulissenstadt in der Nähe von Paris bauen ließ, immens.

Gesamteuropäische Wurzeln

Danach konnte er 1971 nur noch einen Spielfilm fertigstellen: "Trafic". Dieses letzte Werk, eine französisch-belgisch-holländische Co-Produktion, dürfte heute der am wenigsten bekannte Film des Künstlers sein. Tati hat französisch-russisch-holländisch-italienische Wurzeln - und an seine niederländische Herkunft erinnert auch "Trafic".

Filmszene aus dem Film "Trafic" (Foto: Studiocanal)
Die Erdanziehungskraft wird ausgesetzt in "Trafic"Bild: Studiocanal

Es geht um einen Angestellten einer französischen Autofirma (Hulot/Tati), der die Aufgabe hat, einen von ihm entwickelten und mit vielen Extras ausgestatteten Camping-Wagen von Paris zum Autosalon nach Amsterdam zu überführen. Mit einem kleinen Team, einem ausgeschlafenen LKW-Fahrer und einer aufgedrehten PR-Dame, macht Hulot sich auf den Weg. Der Film schildert, was er dabei erlebt: kleinere Abenteuer und größere Unterbrechungen, eingefangen in vielen Slapstick-Miniaturen.

Ein Unfall als Kunstwerk

Höhepunkt des Films ist eine spektakuläre, choreografisch meisterhaft in Szene gesetzte Massen-Karambolage auf der Autobahn. Dutzende Autos kollidieren dabei, kommen vom Weg ab, verkeilen sich ineinander, Autoteile machen sich selbständig. Bis auf ein paar blaue Flecken entsteigen die Fahrerinnen und Fahrer ihren demolierten Blechkästen, recken und strecken sich, versammeln sich zu einem grotesken Autobahn-Sit-In.

Filmszene aus dem Film "Trafic"(Foto: Studiocanal)
Immer wieder Konflikte mit der Ordnungsmacht: "Trafic"Bild: Studiocanal

Der Mensch wird hier, wie meist bei Tati, zum scheinbar hilflosen Wesen - inmitten einer Technik, die zwar von ihm selbst erschaffen wurde, die ihn aber zweifellos längst zum Untertan gemacht hat. Einen berühmten Kritiker erinnerte "Trafic" damals an Jean-Luc Godard und dessen apokalyptischen Autobahnfilm aus dem Jahre 1967: "'Trafic' ist Tatis 'Weekend'."

Was hätte Tati dazu gesagt?

Heute könnte man sich keinen geeigneteren Regisseur als Jacques Tati vorstellen, um den digitalen Wahn unserer Zeit in Kinobilder zu packen. Hulot inmitten von Computer und Smartphone, in einer Welt von Kameras und vollständiger Überwachung. Dass heute Geräte und Maschinen kleiner und handlicher sind als alles zuvor dagewesene, dass die digitale Welt den Menschen längst abgehängt hat und viele Objekte ihr Eigenleben führen: Jacques Tati hätte diese Veränderung der Lebensumstände durch Fortschritt und Technik vermutlich besonders herausgefordert.

Jacques Tati Complete Collection / Blu-ray Schuber, Frankreich 1949-74, mit vielen Extras, u.a. Interview mit Jacques Tati; Filmanalysen zu den einzelnen Werken; Audiokommentare; sowie den Kurzfilmen: "Die Schule der Briefträger", "Raufbold gesucht", "Heiterer Sonntag", "Halte deine Linke hoch!", "Abendkurs", "Forza Bastia", "Spezialität des Hauses"; 56-seitiges Booklet.