Katalonien: Nationalismus mit faulen Wurzeln
9. November 2015Jedes Mal, wenn ein Heimspiel des FC Barcelona die Marke von 17 Minuten und 14 Sekunden erreicht, schwillt die ohnehin beeindruckende Kulisse des Stadions Camp Nou zu einer geradezu bedrohlichen Bühne der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung an. "In-de-pen-den-cia" - "Unabhängigkeit" schallt es dann aus Zehntausenden Kehlen. Fast 100.000 Zuschauer passen in das monumentale Fußballstadion.
Arcadi Espada, renommierter Journalist aus Barcelona, sind diese Bestrebungen zuwider: "Natürlich haben die Katalanen ein grundsätzliches Recht auf Unabhängigkeit, aber wie jeder nationalistische Diskurs basiert auch der katalanische auf irgendwelchen Lügen."
"Weder Nation noch demokratisch"
Die 17 Minuten und 14 Sekunden im Camp Nou markieren das Jahr 1714. Und damit, so sagen die "Independentistas", den Beginn der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Nachdem die Bourbonen als Sieger aus dem spanischen Erbfolgekrieg (1700-1714) hervorgangen waren, sei Katalonien Spanien einverleibt worden. Manch einer behauptet sogar, die Invasion habe eine demokratische Nation Katalonien beendet.
Einer von denen, die vehement dagegen halten, ist selbst Katalane: "Es existierte damals weder eine katalanische Nation noch Demokratie, so viel steht fest", sagte der Historiker und Buchautor Jordi Canal der spanischen Tageszeitung "La Voz de Galicia". Richtig sei, dass Katalonien seit dem Mittelalter einen Sonderstatus innerhalb des spanischen Königreichs innehatte. Nun fürchtete der katalanische Adel, diese Privilegien zu verlieren, und kämpfte daher auf Seiten der bis dahin regierenden Habsburger. Um die Unabhängigkeit sei es aber nicht gegangen.
Dennoch feiern die Katalanen den 11. September, den Tag an dem sich Katalonien 1714 endgültig in die bourbonische Herrschaft fügte, seit 1980 als ihren "Nationalfeiertag". Ob der Begriff Nation überhaupt jemals auf Katalonien zugetroffen habe - Canal bezweifelt das. Wenn überhaupt, sei Katalonien heutzutage im Begriff, sich zu einer eigenständigen Nation zu entwickeln. Zu eng sind die katalanische und die spanische Kultur seit Jahrhunderten miteinander verwoben.
Klar ist allerdings, dass die Katalanen immer eine eigene Sprache hatten. Mit dem Spanischen ist es nicht enger verwandt als Portugiesisch oder Galizisch, das in Nordwestspanien gesprochen wird. Doch im Gegensatz zu Galizisch und Baskisch ist Katalanisch seit Jahrhunderten eine Prestige- und Kultursprache. Die ältesten Schriften stammen aus dem 12. Jahrhundert. Seither gab es immer bedeutende Autoren katalanischer Sprache. Auch unter den Bourbonen, die das Katalanische zeitweise als Schul-, Kirchen- und Amtssprache abschafften.
Martialische Rhetorik
So verhielt es sich auch unter der faschistischen Diktatur Francisco Francos (1936-1975). "Katalanisch war keine offizielle Landessprache, aber nicht verboten", sagte die 1916 in Barcelona geborene (und 2014 dort verstorbene) Schriftstellerin Mercedes Salisachs 2009 in einem Interview mit der Zeitung "El Mundo". Der katalanische Ökonom und Politiker Eduard Punset, geboren 1936, bekannte ein Jahr später in der Zeitung "El Periódico", sein Vater habe ihn zum Studium nach Madrid geschickt, weil er kaum Spanisch, sondern nur Katalanisch sprach. Das war Mitte der 1960er-Jahre.
Dennoch sprechen katalanische Nationalisten bis heute vom "kulturellen Genozid". Mit solcher Vehemenz haben sie vom generellen Verbot der katalanischen Sprache erzählt, dass selbst gebildete Menschen in ganz Spanien bis heute überzeugt sind, dass man bestraft worden sei, wenn man Katalanisch sprach.
Faschistische Unterdrückung
In der Tat war Spanisch unter Franco die einzige Amts- und Unterrichtssprache. Auch ist nicht auszuschließen, dass sich die bis etwa 1945 massive politische Repression auf Menschen konzentrierte, die Katalanisch sprachen. Barcelona war im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) eine Hochburg der Anarchisten.
Katalanisch zu sprechen oder zu schreiben war jedoch nie grundsätzlich verboten. Ab den 1950er-Jahren haben sogar zahlreiche Autoren Preise für katalanisch-sprachige Werke erhalten - unter ihnen Josep Pla, einer der angesehensten Schriftsteller Spaniens im 20. Jahrhundert. Die herrschende Zensur zielte auf politische Inhalte ab, nicht auf die Sprache.
1968 wurde der katalanische Sänger Joan Manuel Serrat vom Franco-Regime zurückgepfiffen, als er Spanien beim Grand Prix d'Eurovision de la Chanson mit einem Lied auf Katalanisch vertreten wollte. Die Sängerin Massiel sang das Lied auf Spanisch und gewann den Wettbewerb. Ein allgemeines Katalanisch-Verbot, wie es unter anderem die deutsche Wikipedia erklärt, kann allerdings nicht als Begründung herhalten. Denn Serrat sang es auch auf Katalanisch - so wie viele andere Lieder, mit denen er in den letzten zehn Jahren der Franco-Dikatur berühmt wurde.
Katalanische Retourkutschen
Wie auch immer die Repression aussah, nun hat Katalonien den Spieß herumgedreht. Die Regierung der Autonomen Region hat ihre Kompetenzen ausgereizt, um den Gebrauch des Spanischen zu unterdrücken: Geschäfte müssen Strafen zahlen, wenn sie Schilder auf Spanisch aufstellen. Ein Arzt wurde verklagt, weil er seine Patientin bat, mit ihm Spanisch zu sprechen. Eine Schülerin flog aus dem Unterricht, weil sie kein Katalanisch konnte.
Die Schülerin war kurz zuvor aus Teneriffa nach Corbera de Llobregat nahe Barcelona gezogen. Eine spanisch-sprachige Schule konnte sie dort nicht besuchen, weil es sie in Katalonien nicht mehr gibt. "Man muss sich diesen Widerspruch zur Demokratie vor Augen führen", mahnt der katalanische Journalist Arcadi Espada: "In Katalonien ist es nicht möglich, sein Kind auf der Sprache unterrichtet zu lassen, die im ganzen Land Amtssprache ist."
Dennoch sieht es derzeit aus, als könnte es den katalanischen Independentisten gelingen, Spanien zu spalten. Tröstlich für die gut 30 Prozent der Einwohner Kataloniens, die keine Katalanisch sprechen: Raül Romeva, der Vorsitzende der Separatisten-Koalition "Junts pel Sí", hat angekündigt, dass Spanisch auch in einem unabhängigen Katalonien offizielle Landessprache bleiben werde.