Kein Film für Kunsthistoriker: "Botticelli Inferno"
3. November 2016Botticellis Bilder wie die "Geburt der Venus" (Artikelbild) gelten noch heute als Ausdruck reiner Schönheit. Dafür wird der Renaissance-Meister verehrt. Immer wieder legen Menschen an seinem schlichten Grab in der Ognissanti-Kirche in Florenz Blumen und Briefe nieder. Wie viele andere Künstler seiner Zeit schuf Botticelli Auftragsarbeiten für die einflussreiche Familie der Medici.
Eines Tages erhält er den Auftrag, die "Göttliche Komödie" von Dante Alighieri zu illustrieren. Dante erzählt darin seine Reise an der Hand des römischen Dichters Vergil durch die Hölle und ins Paradies. Die Illustration dieses Werks ist ein überaus ehrenvoller Auftrag für Botticelli, denn Dantes Gesänge gelten bereits 100 Jahre nach dessen Tod als wichtigstes Werk der italienischen Dichtkunst.
In 100 Bildern durch die Hölle
Botticelli macht sich an die Arbeit und zeichnet in der Folge über 100 Bilder. Er verbringt viele Jahre mit dem Stoff, denn er will zu jedem der Gesänge den passenden Ausdruck finden, sie so anschaulich wie möglich visualisieren. Heute würde man sein Konzept wohl als Graphic Novel bezeichnen.
Einer der Höhepunkte von Botticellis Zyklus ist die "Mappa dell'Inferno", eine Art Wegweiser durch Dantes Hölle in Form eines Trichters. Er ist den anderen Illustrationen vorangestellt und beschreibt auf einen Blick die verschiedenen Kreise der Hölle, die Dante mit Vergil durchschreitet.
Das Besondere daran: Anstatt - wie damals üblich - einzelne Bilder zu Dantes Gesängen zu zeichnen, gelingt es Botticelli mit seiner Mappa, ein Raum-Zeit-Kontinuum zu schaffen. Auf einem einzigen Pergament erzählt er den gesamten Gang Dantes und Vergils durch die Hölle. Dieser beeindruckende und rätselhafte Bilderreigen ist Dreh- und Angelpunkt des Films.
Dokumentarfilme über Kunst sind gewiss kein leichtes Unterfangen. Ganz zu schweigen von einem Film über ein einzelnes Kunstwerk. "Man hat nur die Bilder, die sind statisch. Man hat Menschen, die darüber reden, und das war's", sagt der Hamburger Regisseur Ralph Loop im Gespräch mit der DW. Einer der Wege aus diesem Dilemma ist für Loop modernste Technik. In gestochen scharfen, hochaufgelösten 4K-Bildern, mit pompöser Filmmusik und Drohnenflügen erweckt er das Florenz der frühen Neuzeit zum Leben. Die Gänge der Apostolischen Bibliothek im Vatikan wirken bei Loop wie aus einem Hollywood-Thriller. Interviewpartner stolzieren in Superzeitlupen durchs Bild.
Die dunkle Seite des Meisters Botticelli
Von Anfang an wird klar: Dieser Dokumentarfilm will Spannung erzeugen. Er will eine "dunkle Seite" Botticellis heraufbeschwören, die dem großen Publikum bislang nicht bekannt war. Frank Zöllner, Kunsthistoriker an der Uni Leipzig und Botticelli-Experte, sieht diesen Ansatz kritisch: "Über Botticellis Person wissen wir so gut wie nichts, nicht einmal sein genaues Geburtsdatum ist bekannt. Dass ein Künstler eine dunkle Seite hat und sie auch zum Ausdruck bringt, ist eine recht moderne Vorstellung, die man nicht auf Botticelli anwenden kann." Selbst die im Film vorkommenden inneren Turbulenzen Botticellis, die er aufgrund seiner Beschäftigung mit Dantes Inferno gehabt haben soll und die sein früher Biograf Giorgio Vasari erwähnt, sind laut Zöllner nicht belegt: "Wir wissen heute, dass Vasaris Angaben über die Turbulenzen in den letzten Lebensjahren Botticellis reine Erfindung sind."
Ralph Loop schafft Infotainment mit Herz
Es ist auch gar nicht der etwas konstruiert wirkende mysteriöse Touch, der "Botticelli Inferno" sehenswert macht. Beeindruckend wirkt vielmehr der Kontrast zwischen den aufwendig gedrehten, bombastischen Bildern und den sehr natürlichen, mehrheitlich italienischen Protagonisten des Films, die auf anschauliche und lebhafte Art und Weise von Botticelli und seiner Zeit erzählen.
Loop kehrt immer wieder zu einer allgemeingültigen Ebene zurück, nämlich zu der Frage: Was bedeutet Dantes Hölle im Jahr 2016? Also im Grunde: Was glauben wir eigentlich? Die wiederkehrenden Wortwechsel zwischen einem italienischen Straßenkomiker und Flaneuren auf einer Piazza in Florenz sind das wahre Herz dieses Films. Die kleinen, alltagsphilosophischen Gespräche, die sich beim gemeinsamen Betrachten der Hölle Botticellis entwickeln, schaffen eine Nähe, die bei einem solchen Sujet sonst kaum gelingt.
"Botticelli Inferno" hat keineswegs den Anspruch, neue kunsthistorische Erkenntnisse zu liefern. Regisseur Ralph Loop stellt klar: "Dieser Film ist kein Film, der Kunsthistoriker mit der Zunge schnalzen lässt. Wir wollten einen Film machen, den die breite Masse gern sehen mag." Die Stärke seines Films liegt darin, dass er unterhält und gleichzeitig immer wieder zum Nachdenken anregt - über die eigene Sicht auf die Hölle, über Botticelli und seine Motivation. "Botticelli Inferno" ist Infotainment mit Herz.